Meine Kinderjahre
wünschte.
Ein anderer aus der Honoratiorenschaft war Hofrat Dr.
Kind,
wenn ich recht berichtet bin, ein Neffe des Freischützdichters Friedrich Kind. Er war mit einem Fräulein Valentini verheiratet, einer Schwester des um jene Zeit als Universitätslehrer in Berlin lebenden italienischen Professors Valentini. Das damals erst aufblühende Swinemünder Seebad verdankte dem Eifer Kinds sehr viel; unter anderem war er auch schriftstellerisch in dieser Richtung tätig. In seiner Erscheinung war er klein und fein, typischer Sachse, was sonderbarerweise die Spottlust der sonst so humoristisch-derb zugeschnittenen Swinemünder nicht herausforderte. Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen und ist mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe. Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter allen Umständen ihren Spott treiben, sie suchen vielmehr zunächst nach Schwächen, und erst wenn sie diese gefunden haben, haken sie ein, während alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So war es auch mit Dr. Kind. Er war unser Hausarzt, und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. »Die andern«, sagte sie, »sind Witzbolde, Dr. Kind ist aber ein feiner Mann, und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer.«
Hofrat Kind war Hüter unseres physischen Menschen, der alte Pastor
Kastner
dagegen war Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren am Ort reichte wohl bis in die letzten friderizianischen Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit zurück, und wenn er »Erinnerungen« geschrieben hätte, so hätte das wohl das anschaulichste Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er hatte durch all die Zeit hin, trotzdem es Zeiten bedenklichster Lebens- und Gesellschaftsformen waren, sein Ansehen nicht eingebüßt, und die Liebe seiner Gemeinde stiftete ihm gegen das Ende seiner Tage hin ein lebensgroßes Bild in der Kirche, das, wie die Bilder aller alten Pastoren mit Doppelkinn, den ausgesprochenen Luthertypus zeigte. Wenn wir gelegentlich dem alten Küster Hahr, der nebenher auch noch Totengräber und Glöckner war, beim Glockenläuten halfen, schlich ich mich meistens aus der Vorhalle der Kirche in diese selbst hinein, bloß um das Bild des alten Kastner, der mir als der Inbegriff des Ehrwürdigen erschien, besser vor Augen zu haben. Daß mich der alte K., beziehungsweise sein Bild, so lebhaft interessierte, hatte freilich seinen Grund nicht bloß in der ehrwürdigen Erscheinung des Alten, sondern mehr noch darin, daß mir mein Vater erzählt hatte, Pastor Kastner, trotzdem er nur arm sei, habe seine drei Söhne studieren lassen, und alle drei seien Professoren geworden, einer sogar Professor der Chemie zu Kasan, »zu Kasan an der Wolga mit beinahe 60 000 Einwohnern«. Mein Vater hatte nämlich, wie schon angedeutet, ein besonderes Talent, nicht bloß historische, sondern auch geographische Namen derart auszusprechen, daß sie einen Eindruck machen mußten, besonders wenn er die Namensnennung noch mit einer großen Einwohnerzahl begleiten konnte.
Neben dem Predigerhause stand das Burgemeisterhaus, drin Burgemeister
Beda
wohnte. Wie Kastner, so war auch Beda schon alt und krank, und sein Stadtregiment, wenn er ein solches überhaupt noch führte, währte nicht lange mehr. Kaum ist mir ein Bild von ihm geblieben, desto deutlicher aber von seiner (zweiten) Frau. Diese war, bei Hinscheiden ihres Gatten, noch eine Schönheit ersten Ranges und stammte wahrscheinlich aus dem Süden, ich würde sagen aus Südspanien, wenn sie nicht, statt klein und zierlich wie die meisten Südspanierinnen, von imposanter Erscheinung gewesen wäre, groß, ernst, hoheitlich. Jedenfalls war ihr etwas völlig Fremdartiges eigen, und als ich einige zwanzig Jahre später Storms Gedichte kennen und bewundern lernte, konnte ich eines dieser Gedichte nie lesen, ohne die Gestalt der schönen Frau Beda wieder vor mir aufsteigen zu sehen. Dies Gedicht hieß »Die Fremde« und lautete in seinen Schlußzeilen:
Ich hörte niemals heimverlangen
Den stolzen Mund der schönen Frau,
Nur auf den südlich blassen Wangen
Und über der gewölbten Brau
Lag noch Granadas Mondenschimmer,
Den sie vertauscht um unsern Strand,
Und ihre Augen dachten immer
An
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