Meine letzte Stunde
die Pflegebetreuer täglich heben. „Wenn ich für jedes Kilo, das ich gehoben habe, nur einen Euro bekommen hätte, dann könnte ich mir ein Palais kaufen“, rechnet sich die Pflegehelferin Martina aus und lacht dabei. Die höchste Belastung kommt daher, dass man immer gegen sich arbeitet. Man versucht jemanden, der schwerer ist als man selbst, zu heben und schafft es fast nicht. Während man es trotzdem versucht, steigt Wut in einem auf, weil man sich überhebt, weil es einem wehtut, weil der Patient oft völlig passiv ist und einen nicht unterstützt. Der Patient könne natürlich nichts dafür und sie habe sich auch bemüht, sich nie etwas anmerken zu lassen, aber es frisst sich in einen hinein.
Martina ist 42 Jahre und leidet nach 25 Berufsjahren an Problemen in den Lenden, mit den Hals- und Brustwirbeln, in den Ellbogen, in den Handgelenken, in den Knien und Sprunggelenken. In der Station mit den geistig Behinderten herrschte ein Klima der ständigen Bedrohung, mindestens fünf Mal am Tag traten Extremsituationen ein, einmal wurde Martina von einem Patienten gebissen – dafür gab es die höchstmögliche Gefahrenzulage. Oberarm- und Unterarmbrüche von Schwestern sind keine Seltenheit. Eine geistig Behinderte hat ihr einmal die Daumen umgebogen, seitdem habe sie keine Kraft mehr in den Händen – es sei eigentlich alles kaputt, sagt sie nach kurzem Nachdenken. Die körperliche Belastung entspreche der von Bauarbeitern. „Entschieden habe ich mich für diesen Beruf schon als Kind, weil ich damals geglaubt habe, dass man da im weißen Gewand herumgeht und alten Menschen Kakao austeilt. Mein wirklicher Lebenstraum war es, Balletttänzerin zu werden. Meine Mutter wollte das nicht, weil sie Angst hatte, dass ich mir die Knie und das Kreuz kaputt mache“, erzählt Martina – und lacht wieder laut los.
Es bedarf eines ziemlichen Aufwands, um Martina den Satz „Meine Arbeit ist wichtig und ich weiß, dass ich darin gut bin“ zu entlocken. „Das weiß ich aufgrund der Reaktionen der Schwestern und Oberschwestern, aber vor allem der Patienten.“ Gut ist für Martina die Fähigkeit, zu erkennen, was ein Mensch braucht, wie er liegen will, ob ihm kalt oder heiß ist. Sie war immer stolz darauf, Pflegehelferin zu sein und ist trotz des Lainz-Skandals [3] stets mit erhobenem Haupt gegangen. Wenn Martina sagt, was sie beruflich macht, hört sie oft: „Das könnte ich nicht. Hut ab, das ist toll.“ Ihr „Lieblingssatz“ lautet: „Das könnte ich nie.“
Dann antwortet Martina immer: „Das kann jeder. Warum soll das einer nicht machen können? Die Wahrheit ist, dass es viele nicht machen wollen und froh sind, dass jemand wie ich das macht.“
Mario, Mira, Viktor, Lidia und Martina haben keinen Universitätsabschluss und keine höhere Schule besucht. Sie wissen, was praktische Weisheit ist, ohne Aristoteles gelesen zu haben. Aristoteles sagt, praktische Weisheit ist eine Kombination von moralischem Willen und moralischer Fähigkeit. Eine praktisch weise Person erkennt, wann sie eine Regel kurzfristig ignorieren muss, um den höheren Zweck, der dahinter steht, zu erfüllen, wie Mira, die schlafende Familienangehörige nach einer langen bangen Nacht nicht durch ihren Staubsauger aufgeweckt hat. Praktische Weisheit ist nicht angeboren, sie wird geformt durch Erfahrung. Martina erzählt von ihren Vorgesetzten. „Das waren oft Leute, die hatten studiert und dann zwei Jahre ein bisschen wo hineingeschnuppert, und dann wollten sie mir sagen, wie das alles laufen sollte. Dann fragen sie mich noch ständig: ‚Wie geht es Ihnen bei dem, was Sie tun?‘ oder ‚Was haben Sie dabei gefühlt, wie Sie das jetzt gesagt haben?‘. Die hatten oft überhaupt keine Ahnung von meinem Job.“
Man benötigt Zeit, um die Personen kennenzulernen, denen man helfen will. Man braucht die Erlaubnis, improvisieren zu dürfen, oder den Mut, es einfach zu tun. Man muss neue Dinge ausprobieren, und wenn sie nicht funktionieren, aus diesen Fehlern lernen. Es bedarf vieler Erfahrungen, um so arbeiten zu können wie die beschriebenen Personen. Natürlich dauert es nicht lange, um zu lernen, wie man den Boden wischt oder den Mülleimer leert, aber es braucht viel Zeit, um zu lernen, wie man für Menschen sorgt. Gerade Krankenpfleger werden leider sehr schnell auf Waschen und Anziehen reduziert, ihre soziale Funktion wird oft übersehen. Diese erkennen die meisten erst dann, wenn sie selbst plötzlich völlig auf die Fürsorge eines ihnen
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