Meine letzte Stunde
Tages erkrankte ihr dreijähriger Sohn an einer Lungenentzündung. Sie brachte ihn ins örtliche Spital, wo sie aber abgewiesen wurde, weil sie noch zehn Dollar schuldig war. In ihrer Verzweiflung versuchte sie es mit ihrem Kind in einem Krankenhaus, das bedürftige Menschen aufnehmen musste. Dort wartete sie in einem Raum, voll von anderen dringend medizinischer Hilfe bedürftiger Menschen, auf einen Arzt. Nach drei Stunden Wartezeit, in denen sie mit ansehen musste, wie ihr kleiner Junge keuchend immer verzweifelter um Atem rang, verstarb er in ihren Armen.
Tief bewegt fragte Kübler-Ross nun die Frau, was diese bittere Erfahrung mit ihrer Fähigkeit, die Stimmung todkranker Patienten aufzuhellen, zu tun habe. Die Frau, die ihre ganze Geschichte ohne Groll oder Vorwürfe erzählt hatte, sah sie mit ihren freundlichen dunklen Augen an und antwortete: „Sie sehen, der Tod ist mir nicht fremd. Er ist ein ganz alter Bekannter. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Manchmal gehe ich ins Zimmer dieser Patienten, die einfach starr vor Entsetzen sind und niemanden haben, mit dem sie reden könnten. Deshalb gehe ich zu ihnen hin. Manchmal berühre ich sogar ihre Hand und sage ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, dass es nicht so schrecklich ist.“ Schon bald darauf beförderte Kübler-Ross die Frau zu ihrer Assistentin. Und sie erkannte, dass die wichtigen Lehrer oft in allen Formen und Verkleidungen in unser Leben treten. Ein Mensch, der die Fähigkeit besaß, einem Mitmenschen sein Herz zu öffnen, konnte mehr bewirken als alle Theorien und Wissenschaften der Welt.
Einige dieser kleinen Helden, die in Wirklichkeit ganz große Helden sind, haben wir in diesem Kapitel schon kennengelernt. Es gibt unzählige davon. Der fast 90-jährige Peter hat seine Frau acht Jahre zu Hause gepflegt und dann zwei Jahre lang täglich zweimal im Pflegeheim besucht. Da habe er jeden Tag vier Kilometer zurückgelegt und das habe sicher auch ihm gutgetan. Das war seine Art, den berühmten Jakobsweg in diesen zwei Jahren zumindest von der Distanz her hinter sich zu bringen, erzählt er mir mit einem Lächeln in seinem Gesicht. Dann gibt es die allein erziehende Mutter, die jeden Tag, wenn sie von der Arbeit todmüde nach Hause kommt, mit ihrem Kind, das unter Legasthenie leidet, Lesen übt. Die nicht aufgibt, auch wenn ihr Kind wieder eine negative Note in Deutsch bekommt, obwohl es nur 17 Fehler statt ursprünglich 24 gemacht hat. Sie tut es aus bedingungsloser Liebe, um ihr Kind gegen alle Widrigkeiten des Lebens zu einem selbstständigen, offenen und wissbegierigen Menschen zu erziehen. Die Pflege eines nahen Angehörigen genauso wie die liebevolle Erziehung eines Kindes verlangen viel Verzicht auf eigene Wünsche, auf Vergnügungen und soziale Kontakte mit Freunden, auf die Verfolgung der eigenen Karriereziele und vieles mehr. Das kann man nicht von jedem fordern, und auch nicht jeder kann es von sich selbst verlangen, dazu sind wir Menschen zu verschieden. Man kann immer nur das Mögliche tun, aber dafür gibt es viele Gelegenheiten.
Das Bedürfnis, das Richtige zu tun, steckt in uns allen. Wann immer wir diesem Bedürfnis nachgeben, sind wir auf der richtigen Spur. Natürlich zweifeln wir manchmal, ob wir nicht die einzigen Idioten auf der Welt sind, die es anders machen, niemand ist davor gefeit.
Ich habe den weisen Altabt des Stiftes Melk, Burkhard Ellegast, einmal gefragt, was er in seinem Leben bereue: „Ich habe mich als Lehrer immer bemüht, den Schülern mit Güte zu begegnen. Meine tiefste Überzeugung war, wenn man liebevoll mit ihnen umgeht, wird mehr dabei herausschauen als wenn man nur streng ist. Ich habe leider bald erkennen müssen, dass sie bei den strengen Lehrern gelernt haben – und bei mir nicht. Meine Güte wurde schamlos ausgenützt. Das hat mich oft getroffen und manchmal habe ich mir gedacht, dass ich eigentlich der ‚Mann von La Mancha‘ bin. Daher hätte ich gute Gründe gehabt, meine zu große Nachsicht zu bereuen. Aber ich habe das Gott sei Dank ohnehin nie können. Wenn ich daher etwas bereue, dann nicht, dass ich zu gütig war und das oft missbraucht wurde, sondern dass ich manchmal daran gezweifelt habe, dass der Weg der Güte der richtige ist.“
Genau diese Selbstzweifel daran, das zu tun, von dem wir innerlich wissen, dass es richtig ist, sind der Stoff, in dem wir in unserer letzten Stunde fündig werden, wenn wir uns fragen, ob unser Leben Sinn gehabt hat.
Spuren hinterlassen
Eine
Weitere Kostenlose Bücher