Meine letzte Stunde
kleine Gedenktafel vor dem Eingang des Hauses, in dem ich lebe, erinnert daran, dass Billy Wilder während seiner Jugendjahre in Wien hier gewohnt hat. Viele Menschen, die mich das erste Mal besuchen, können das kaum glauben, fragen nach, und wenn ich es bestätige, beginnen sie sehr emotional darüber zu erzählen, was ihnen Billy Wilder bedeute. Wildfremde Menschen, die ich das erste Mal treffe, öffnen mir ihr Herz mit sehr berührenden Geschichten darüber, was seine Filme in ihnen ausgelöst haben. Diese kleine, leicht zu übersehende Tafel löst diese Flut von Gefühlen aus. Jene Gedenktafel öffnet eine Tür zu einem Meer von Gedanken und Erinnerungen, die mit den Figuren des Billy Wilder verbunden sind. Der als Samuel Wilder in Sucha bei Krakau Geborene war mehr als einer der erfolgreichsten amerikanischen Filmregisseure, deren es viele gibt. Billy Wilder machte die kleinen Leute zu Helden. Jeder seiner Filme erinnert uns daran, dass wir unsere Angst überwinden und über uns hinauswachsen können. Die Ängstlichen, die Gierigen, die Unscheinbaren erhalten bei ihm ihre Chance, ihre menschliche Seite in sich zu entdecken.
Alle seine Filme wecken unsere Sehnsucht, es trotz unserer Mängel und Defizite richtig zu machen. Deshalb können wir uns seine Filme auch immer wieder ansehen, selbst wenn wir manche Dialoge fast so gut wie die Schauspieler beherrschen. Es ist nicht die Erinnerung an die Person Billy Wilders, die die Herzen der Menschen öffnet, wenn sie die Steintafel vor meinem Haus sehen, sondern es sind die kleinen Helden in seinen Filmen, die plötzlich in unseren Gedanken lebendig werden. Diese Gedanken machen ihn unsterblich.
Manchmal sind es gar nicht die weltbewegenden Geschichten, sondern die kleinen Gesten, an die man sich immer wieder erinnert. Da war ein kleiner Patient, der mit fünf Jahren erkrankte und mit sieben Jahren am 15. Februar verstarb, das wisse sie noch ganz genau, erzählt die Ärztin Martina Kronberger-Vollnhofer über einen ihrer jungen Patienten, der ihr besonders ans Herz gewachsen war. Noch am 14. Februar habe er ihr ein selbst gebasteltes Valentinstagsgeschenk übergeben. „Das war ihm ganz wichtig, dass er das noch selbst fertig machen und mir selbst überreichen konnte, obwohl es ihm da schon wahnsinnig schlecht ging. Dann hat er mir noch ein Packerl gemacht, mit einer Bonboniere, das ewig in meinem Schrank gelegen ist, weil ich es nicht über mich gebracht habe, sie zu essen. Bevor Kinder gehen müssen, ist es ihnen ganz wichtig, Spuren zu hinterlassen.“
Die Indianer vom Stamm der Cheyenne waren sich sicher, dass sich ihre geistige Hülle nach dem Tod vom Körper löst und über die Milchstraße ins Land des „Großen Geistes“ aufsteigt. Allerdings nicht für immer. Viele Seelen starben auch dort irgendwann, spätestens dann, wenn sich niemand mehr auf der Erde an diese verstorbenen Menschen erinnerte. Die Hoffnung, dass wir in den Gedanken anderer Menschen in Erinnerung bleiben, ist sehr alt.
Wo nichts war, bleibt nichts
Als man Gandhi einmal gefragt hat, welche denn die wichtigste Botschaft sei, die man anderen hinterlassen könnte, antwortete er: „Mein Leben ist meine Botschaft.“
Gar nicht so wenige Menschen, mit denen ich gesprochen habe, versicherten mir, dass es ihnen völlig gleichgültig sei, was nach ihrem Tod mit ihnen geschehe, wie man über sie reden würde, das betreffe sie ohnehin nicht mehr. Denn mit ihrem Ende sei alles aus. Ich glaube ihnen das ehrlich gesagt nicht ganz. Gerade wenn jemand im Tod nicht die Verheißung des überirdischen Paradieses sieht, sondern das biologische Ende seines Lebens, wird er sich statt der Frage „Was kommt danach?“ die sehr persönliche „Wer war ich im Leben?“ stellen. Jeder Mensch will, dass sein Leben eine Erfolgsgeschichte ist. Erfolgsgeschichten werden aber immer mit dem Blick auf Erreichtes von anderen geschrieben und erzählt.
Daher müssen wir uns rechtzeitig fragen, wie und womit wir gerne in der Erinnerung anderer bleiben wollen. Ein liebevoller Gedanke an einen Menschen entsteht immer vorher. Versucht man ihn erst in der letzten Stunde zu konstruieren, dann bricht er in sich zusammen, wie ein Haus, das man ohne Fundament errichten will. Wo nichts war, kann auch nichts bleiben.
Wenn es keine Summe von Gedanken gibt, die Menschen mit uns und unserem Tun verbinden, ist es auch sinnlos, sich ein Denkmal irgendwohin zu stellen. Es wird nur eine leere Hülle bleiben. Die Mehrheit der Menschen
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