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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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ihn nachts wieder exhumieren und auf den Schindanger werfen lassen werde. Nach glaubwürdigen Berichten seiner engsten Umgebung starb der große Philosoph ruhig und friedlich.
    Unmittelbar nach seinem Tod begannen gezielte Anstrengungen kirchlicher Kreise, zu beweisen, dass „dem gottlosesten Schriftsteller seiner Nation nur die Höllenfahrt bestimmt gewesen sein konnte.“ Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Genfer Arzt Théodore Tronchin, der von Voltaire wegen seiner medizinischen Kenntnisse sehr geschätzt wurde. Dies schmeichelte ihm zwar, doch änderte das nichts daran, dass er als gläubiger Calvinist Voltaires Gottlosigkeit zutiefst verabscheute. In den Briefen, die Tronchin über den Tod Voltaires an dessen Gegner versandte, vermengten sich immer mehr Realität und blinder Groll gegen seinen ehemaligen Patienten. Obwohl Tronchin an Voltaires Sterbebett gar nicht anwesend war, diente vor allem dessen letzter Brief, der in Paris offen zirkulierte, als Beleg für die wilden Spekulationen über Voltaires furchtbares Ende. So veröffentlichte die französischsprachige Kölner Zeitung „La Gazette de Cologne“ am 7. Juli 1778 folgenden anonymen Bericht: „Dieser Tod war nicht friedlich. Wenn das, was ein sehr ehrenwerter Mann aus Paris berichtet, und was im Übrigen von dem Augenzeugen Herrn Tronchin bestätigt wird, den man wohl kaum widerlegen kann, wahr und richtig ist, dann traten bei Herrn von Voltaire kurz vor seinem Tod schreckliche Erregungszustände auf und er schrie wie rasend: ‚Ich bin von Gott und den Menschen verlassen‘. Er biss sich in die Finger, führte seine Hände in seine Nachtschüssel, fasste, was sich darin befand, und aß es. – ‚Ich wollte‘, sagte Herr Tronchin, ‚dass alle, die von seinen Schriften verführt wurden, Zeugen dieses Todes gewesen wären. Es ist unmöglich, ein derartiges Schauspiel auszuhalten‘. So endete der Patriarch dieser Sekte, die sich durch ihn geehrt glaubt“.
    Von diesem Text ausgehend, begannen sich die Fantasien über die letzte Stunde des Philosophen zu verselbstständigen. So klingen die besonders drastischen Ereiferungen des Abbés Depery aus dem Jahre 1835 heute unfreiwillig komisch: „Als sich der letzte Augenblick näherte, ergriff den Sterbenden erneut Verzweiflung; er schrie auf, dass er eine unsichtbare Hand spüre, die ihn vor den Richterstuhl Gottes zerre; er rief unter entsetzlichem Heulen Jesus Christus an, den er sein ganzes Leben lang bekämpft hatte; er verfluchte seine gottlosen Kumpane, rief den Himmel an und verwünschte ihn in einem. Schließlich führte er, um seinen brennenden Durst zu stillen, der ihn erstickte, sein Nachtgeschirr an den Mund. Er stieß einen letzten Schrei aus und verschied inmitten seines Unrats und Bluts, das ihm aus Mund und Nase troff“. Weitere Bezeugungen ohnmächtiger klerikaler Rache seien hier ausgespart. Viel mehr interessiert die Frage, was tatsächlich mit Voltaires Leichnam geschah.
    Unmittelbar nach dem Tod des Philosophen mahnte die Akademie den für jedes verstorbene Akademiemitglied traditionell von den Franziskanern zelebrierten Gottesdienst ein. Voltaires alter Feind Pfarrer Tersac sprach sich in einem langen Memorandum dagegen aus: „… da er die Werke, die seinen Namen tragen, weder widerrufen noch verleugnet hat, ist er offenkundig ein öffentlicher Sünder von wildester Gottlosigkeit und letzter Infamie. Mehr als 30 Zeugen werden aussagen, dass er bei seinem Tod nicht das geringste Zeichen von Reue gezeigt hat. Er hat weder die Heilige Wegzehrung noch die Letzte Ölung empfangen.“
    Die Messe unterblieb. Allerdings fand sich Friedrich II. von Preußen gerne bereit, für einen Gottesdienst zugunsten Voltaires zu sorgen. Er fand am 30. Mai 1780 im Berliner Dom statt. Voltaires Leiche wurde zunächst ausgeweidet und die Innereien wurden in die Latrinen entsorgt. Das Herz ging an den Marquis de Villette und befindet sich heute in der Bibliothèque nationale de France in einem Metallschrein. Das Gehirn kam nach längerer Odyssee in das Museum der Comédie-Française und ist seit 1924 verschollen. Die Leibeshülle wurde einbalsamiert und wider Wissen und Willen der zuständigen geistlichen Behörden von Voltaires Neffen, Abbé Mignot, mithilfe einer List in die Abtei Scellières in der Champagne transportiert und dort unter dem geistlichen Beistand des ahnungslosen Priors kirchlich beerdigt. Damit war die Odyssee Voltaires sterblicher Reste nicht beendet. Die Geistlichkeit fühlte

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