Meine letzte Stunde
beschaffen sein wird, die das Leben der Zukunft vorwärts treibt oder in welcher Form sie sich unser verzweifeltes Suchen zunutze machen wird. Uns selbst bleibt nur eins: Etwas zu schaffen, sei es ein Objekt, sei es unser Selbst – und es dann hineinfallen zu lassen in die Verworrenheit, um so der Lebenskraft ein Opfer zu bringen.“ [11]
Elisabeth Kübler-Ross lässt uns ahnen, was Menschen in ihrer letzten Stunde empfinden. Gerade wenn man noch nie einen Menschen beim Sterben begleitet hat, kann man Mut und Zuversicht aus ihren Worten holen: [12]
„Der Anblick eines friedlich sterbenden Menschen erinnert an einen fallenden Stern, an einen unter Millionen Lichtern in einem weiten Himmel; er flackert auf und verschwindet für immer in der endlosen Nacht. Der Therapeut eines sterbenden Patienten wird sich bewusst, wie einmalig jedes Individuum im weiten Meer der Menschheit ist. Wir sehen unsere Grenzen, unsere enge Lebensspanne. Unser Leben währet siebzig Jahre und manchmal darüber – doch in dieser kurzen Zeit durchleben wir eine unwiederholbare Biografie, die sich in das Gewebe der menschlichen Geschichte schlingt.“
Am Ende ihrer Überlegungen sprengen Elisabeth Kübler-Ross und Ernest Becker alle religiösen, wissenschaftlichen und philosophischen Grenzen. Denn die letzte Wahrheit vermuten beide im Kosmos. Folgen wir Becker, opfern wir im besten Fall am Ende uns selbst oder unser Werk dem großen Unbekannten, um die universelle Lebenskraft, aus der wir selbst ein Leben lang schöpfen durften, damit zu speisen. Bei Kübler-Ross verlöschen wir wie ein Stern am Himmel, unsere einzigartige Geschichte geht auf im Universum.
Beide großen Forscher geben viele Antworten. Doch mit einer Frage lassen sie uns allein: Wie sollen wir uns unserer eigenen letzten Stunde nähern?
[1]
Ernest Becker: Die Überwindung der Todesfurcht, Gütersloh 1976, S. 9
[2]
Reinhard Topf, leitender Psychologe im St. Anna Kinderspital, hat mich in mehreren Interviews im März 2010 in den Umgang von Kindern mit dem Tod eingeführt.
[3]
Petra Thorbrietz, Vorsitzende der Hospizbewegung in München, in ihrem Buch: Leben bis zum Schluss. Abschiednehmen und würdevolles Sterben – eine persönliche Streitschrift, München 2009, S. 136 f.
[4]
Ernest Becker: Die Überwindung der Todesfurcht, Gütersloh 1976, S. 11–16
[5]
Alle Zitate von Ben Becker in diesem Buch stammen aus einem Interview, das ich mit ihm am 20. April 2010 in Berlin geführt habe.
[6]
Ben Becker meint damit den 27. August 2007, an dem er nach dem Konsum harter Drogen fast gestorben wäre.
[7]
Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, München 2001, S. 62
[8]
Ebd., S. 63
[9]
Ebd., S. 120 ff.
[10]
Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, München – Zürich 1985, S. 171
[11]
Ernest Becker: Die Überwindung der Todesfurcht, Gütersloh 1976, S. 414
[12]
Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, München 2001, S. 360
Glauben hilft zwar, nützt aber nichts – warum wir die Verantwortung für unser Leben an niemanden abgeben können
Wenige Monate vor seinem Tod hatte Voltaire den Höhepunkt seines Ruhmes erreicht. Die angesehensten Institutionen wie die „Académie française“ überhäuften ihn mit Ehren und in den Straßen von Paris huldigte ihm das Volk wie dem „wahren König von Frankreich“. Er durfte mit eigenen Augen die Wirkung seines 60jährigen Kampfes zugunsten der Verbesserung des Lebens der Rechtlosen und für die „Aufklärung“ erleben.
Der Tod Voltaires und der Kampf um seinen Leichnam – eine unglaubliche Geschichte
Angesichts seines nahenden Todes plagte Voltaire vor allem eine Sorge: Ahnte er doch, dass es zu einem Gezerre um seinen Leichnam kommen werde, weil die Klerikalen, die er sein Leben lang mit großer Leidenschaft bekämpft hatte, alles tun würden, um ihm ein würdiges Begräbnis zu verweigern. Tatsächlich witterte die Kirche ihre Chance und schickte ihm an seinem Todestag, dem 30. Mai 1778, zwei Abgesandte, den Abbé Gaultier und den Pfarrer Tersac. Diese hatten den Auftrag, dem Sterbenden einen vollen Widerruf abzuringen oder seinen Wunsch nach einem kirchlichen Begräbnis zu verwerfen. Der genau ausgefeilte Text hätte Voltaire gezwungen, seine lebenslang vertretenen Grundsätze am Ende zu verraten. Als Voltaire sich weigerte, zu unterzeichnen und in Ruhe sterben wollte, verkündete Pfarrer Tersac darauf, dass er ihn nicht beerdigen werde und dass er, sollte er höheren Orts dazu gezwungen werden,
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