Meine letzte Stunde
natürliches Muster, um das Leben überhaupt fortsetzen zu können. Wir können nicht lange in die Sonne schauen, und wir können dem Tod nicht immer ins Angesicht blicken [8] . Auf diese erste Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens – „Nein, nein, mit mir kann es nichts zu tun haben!“ – folgt die zweite, in der wir erkennen müssen, dass tatsächlich wir gemeint sind. Wir empfinden Zorn, Wut und Groll. Vielen fallen auch sofort andere Menschen ein, die den Tod viel mehr verdient hätten als sie selbst, entweder weil sie viel älter oder weil sie schlechtere Menschen sind. Warum trifft es nicht diese?
Doch irgendwann müssen wir erkennen, dass weder das Verleugnen noch das Hadern uns wirklich helfen können. Wir beginnen zu verhandeln, mit Gott, wenn wir gläubig sind, mit dem Schicksal, wenn wir an Gott zweifeln, oder am besten mit allen „höheren Mächten“, die wir uns nur vorstellen können. „Wenn ich jetzt gesund werde, höre ich sofort zu rauchen auf“ oder „Wenn Gott mich verschont, dann verspreche ich, ein besserer Mensch zu werden“. Wir werden wieder zu kleinen Kindern, die, wenn sie merken mussten, dass sie ihre Wünsche auch mit Trotz nicht immer gegen ihre Mutter durchsetzen konnten, es mit einem besonders versöhnlichen Verhalten versucht haben: „Wenn ich jeden Nachmittag brav lerne, bekomme ich dann einen Hund?“ Im Falle der tödlichen Bedrohung wollen wir mit dem gleichen naiven Verständnis um einen Aufschub feilschen, wie wir als Kinder das Zu-Bett-Gehen verzögern wollten. Wir versprechen dabei Dinge, die uns selbst so unrealistisch erscheinen, dass wir im besten Fall einem Therapeuten von unserem „Handel“ mit Gott zu erzählen wagen.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt lässt sich die Schwere der Krankheit nicht mehr verleugnen. Ein Organ muss entnommen werden, die Bewegungsfähigkeit sinkt, der Arbeitsplatz geht verloren, die Konzentrationsfähigkeit lässt nach, die Kräfte schwinden. Zusätzlich kommen die Sorgen um die Kinder, die finanzielle Situation. Doch die größte Belastung ist die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des nahenden Endes. Kübler-Ross nennt diese Phase Depression. Diese entsteht aus den bereits erlittenen Verlusten und der Sorge über den noch zu erwartenden Verlust. [9]
Hat der Patient die beschriebenen vier sehr emotionalen Phasen erlebt und vor allem auch seinen Zorn aussprechen können, Bestärkung in der Depression erhalten und auch mit Freunden offen trauern können, eröffnet sich ihm die fünfte Phase der Zustimmung. Die Stunden des Schlafens und Dösens werden länger und er sieht seinem Ende mit mehr oder weniger ruhiger Erwartung entgegen. Er spricht auch immer öfter selbst von seinem bevorstehenden Tod. Der Schmerz und der Kampf sind vorbei, der Patient hat ein gewisses Maß an Einverständnis erreicht und verengt seine Interessen immer mehr auf seine unmittelbaren Bedürfnisse. Sein Wunsch, in Ruhe gelassen und auch nicht mehr durch Nachrichten von der Außenwelt „belästigt“ zu werden, stellt vor allem die Angehörigen vor eine große Herausforderung. Die Kommunikation beschränkt sich immer mehr auf Gesten und Berührungen. Der Kranke hält unsere Hand und bittet schweigend, bei ihm zu sitzen. Auch wenn er nicht bei vollem Bewusstsein ist, spürt er anscheinend, wenn geliebte Menschen im Raum sind. Unsere Anwesenheit zeigt dem Kranken, dass er nicht allein ist und dass wir ihm bis zum Ende beistehen.
Kübler-Ross sieht in den fünf Phasen Verteidigungsmechanismen, die uns Menschen helfen sollen, extrem belastende Situationen zu bewältigen. Wir durchlaufen diese Phasen also nicht erst am Ende unseres Lebens, sondern in vielen existenziellen Krisen davor. Jedes Mal, wenn wir etwas aufgeben müssen, wenn wir getrennt werden, wenn wir etwas unwiederbringlich verlieren, durchlaufen wir die Phasen
• der Verleugnung,
• des Zorns,
• des Verhandelns,
• der Depression,
• der Zustimmung.
Die einzelnen Phasen können bei verschiedenen Menschen unterschiedlich lange und intensiv sein, sie existieren auch oft nebeneinander, sie laufen bewusst oder unbewusst ab.
Unter einem schlimmen Tod verstehen wir, wenn ein Mensch verzweifelt gegen das Unvermeidliche ankämpft und nicht friedlich sterben kann. Nicht alle können diese Phase des Einverständnisses erreichen, manche kämpfen buchstäblich bis zum letzten Atemzug, bis sie eines Tages „Ich kann nicht mehr“ sagen und verlöschen. Wer im Leben die Balance zwischen
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