Meine letzte Stunde
stellen sich diese Fragen nicht, was wirklich notwendig ist.“ 1983 durchstieg Bubendorfer die berüchtigte Eiger-Nordwand mit 21 Jahren als Erster allein und ohne Seil. Er brauchte dafür nur vier Stunden und fünfzig Minuten. Das war mehr als doppelt so schnell wie der damalige Rekord von zehn Stunden, der 1974 durch Reinhold Messner und Peter Habeler mit einer Seilschafts-Durchsteigung erreicht wurde. Wie konnte er das schaffen? Nur mit einer Optimierung der Ausrüstung und des Kletterstils ließ sich diese Leistung beim besten Willen nicht erreichen. Auch die leichtesten Seile und Haken der Welt wogen damals noch immer drei bis vier Kilogramm. Bubendorfer tat etwas radikal Einfaches: Er ließ die Seile komplett weg, was das Risiko beim Klettern zwar erhöhte, aber dafür das gefährliche Wetterrisiko auf der Eiger-Nordwand ausschaltete, weil er nicht in der Wand biwakieren musste.
Wie oft zögern wir, auch nur ein bisschen Ballast abzuwerfen, wenn wir auf unserem Lebensweg immer langsamer werden und uns wundern, warum wir ehrgeizige Ziele auf einmal nicht mehr erreichen können. Wie sehr sind wir darin gefangen, was wir alles für unverzichtbar halten. Und im Gegensatz zu Bubendorfer, der mit den Seilen auf das scheinbar Wichtigste verzichtete, würden wir keineswegs unser Leben riskieren, nur weil wir in eine kleinere Wohnung ziehen, das Zweitauto verkaufen oder eine schon lange beengende Beziehung aufgeben. Um nicht missverstanden zu werden: Verzichten und Aufgeben sind wichtige Werte an sich, doch das Umpacken in der Lebensmitte dient ganz schlicht dem Zweck, für neue Ziele beweglich genug zu sein und Platz für genau jene Dinge zu schaffen, die man in der Zukunft braucht.
Mehr Risiken eingehen
Wir alle lieben Überraschungen – aber nicht wirklich. Wir mögen nur angenehme Überraschungen, alles andere sind Probleme. Wenn aber die Überraschungen aus dem Leben schwinden, dann schwindet das Leben aus dem Leben.
Richard Leider fragte in einer Studie ältere Menschen, was sie anders machen würden, könnten sie ihr Leben nochmals beginnen. Die wichtigste Aussage war: „Ich würde mehr Risiken eingehen.“ Dabei ging es um die „kleinen Dinge“, wie in einer bestimmten Situation mehr Zivilcourage gezeigt zu haben, genauso wie um die „großen Dinge“, wie die Feigheit, die wahre Berufung nicht einmal gewagt und dafür einen wenig erfüllenden Beruf ergriffen zu haben. Ein Lebensweg, der sich durch Authentizität und Originalität auszeichnet, wird immer ein riskanter und von Widerständen geprägter. Ältere Menschen erzählen, dass die Dinge, welche sie am meisten in ihrem Leben bereuen, jene sind, die sie nicht getan haben. George E. Vaillant dokumentiert in seinem Buch „Aging Well“, [5] dass Menschen, die es sich in der Lebensmitte zur Aufgabe machen, Spuren zu hinterlassen, in den folgenden Jahren dreimal so glücklich sein können als jene, die das nicht tun.
Retten wir die Universität des Lebens – solange sie noch steht
Was ist die älteste Universität der Welt? Jüngste Forschungen gehen davon aus, dass diese in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria lag, wo allein das bisher ausgegrabene Areal 5000 Lernenden Platz geboten haben musste. Aber die älteste und zweifellos größte Universität ist die Universität des Lebens. Die Lehrenden sind die Väter und Mütter, mindestens so wichtig aber die Großväter und Großmütter. Die Studierenden sind die Kinder. Was die Universität des Lebens neben ihrer Größe so einzigartig macht, ist das herrschende Prinzip des Lernens. Denn die Dozenten, also die ältere Generation, sind gleichzeitig die Lernenden, weil sie von den Jungen mit ihren Fragen immer wieder gefordert sind, ihr Wissen in Frage zu stellen, und die Jungen sind immer auch die Forscher, denn sie stellen die Fragen, wollen Neues entdecken. Die Hörsäle der Universität des Lebens sind die Wohnungen, Häuser, Bauernhöfe und oft auch nur die Hütten der Familien, genauso wie die Parks, Dorfplätze, Wiesen und Wälder, überall dort, wo Junge und Alte sich treffen können.
Doch immer mehr Hörsäle leeren sich, die Studenten und Lehrenden finden nicht mehr zueinander und leiden. Die Dozenten leiden mehr, denn all ihr Wissen und ihre Erfahrung liegen ab dem Zeitpunkt, wo diese besonders reif und wertvoll sind, völlig brach. Wie Felder, die nicht bestellt werden, verrottet die riesige Bibliothek des lebenden Gesamtwissens der Menschheit. Es gibt zwar ehrgeizige Projekte, wie
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