Meine letzte Stunde
David gerade sorgsam, aber mit der Entschiedenheit des Bodyguards eines Präsidenten zum Ausgang geleiten, da sprach mich plötzlich eine ältere Frau an und zog mich zur Seite: „Ich muss unbedingt kurz mit Ihnen sprechen.“ Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich jetzt absolut keine Zeit hätte, gab ihr meine Visitenkarte mit der Bitte mich anzurufen, sah, dass sich schon wieder eine Menschengruppe um Bruder David gebildet hatte, verfiel fast in Panik und musste feststellen, dass sich die Frau einfach nicht abschütteln ließ. Ich konnte meinen Ärger kaum beherrschen. Da sie merkte, dass ich mich wieder abwenden wollte, ergriff sie meine Hand und holte tief Luft, bevor es aus ihr herausbrach: „Ich muss Ihnen einfach Danke sagen, für Ihr Buch und alles, was Sie tun.“
Sie brachte mich mit diesem Satz völlig aus der Fassung, wie wenn man einen Schlafenden mitten aus seinen tiefen Träumen durch heftiges Rütteln plötzlich herausreißt. Sie sah mich an und schwieg. Ich fühlte mich beschämt, das merkte sie natürlich. In all dem Trubel um Bruder David hatte ich einen Menschen übersehen, der mir einfach nur Danke sagen wollte. Ich hatte mit meiner totalen Fixierung auf mein Ziel, Bruder David zum Abendessen mit meinen Freunden zu bringen, gegen eines der wichtigsten Dinge verstoßen, die er mich gelehrt hatte: Die Qualität des Lebens liegt im Hinschauen, nicht im Wegschauen, in der Achtsamkeit, nicht in der Unachtsamkeit.
Ich hatte diese Frau nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Eine Frau, die sicher gemerkt hatte, wie sehr ich unter Stress stand und trotzdem den Mut gefasst hatte, die Gelegenheit zu nutzen, mich anzusprechen und ein paar Worte mit mir zu wechseln. Was ist wohl in ihr vorgegangen? Wie viel Mut hatte es mich selbst oft gekostet, jemanden für mich Wichtigen nach einer Veranstaltung anzusprechen? Wie groß war immer die Erwartung an diese erste Reaktion in dessen Gesicht, an der ich sofort erkennen konnte, ob es ein ehrliches Interesse für mein Anliegen, vor allem für mich als Mensch gab? Und wie großartig ist dann das Gefühl, wenn sich der andere tatsächlich auf ein Gespräch einlässt, einem in die Augen schaut, das wertschätzt, was man sagt. Und wie frustrierend, ja manchmal erniedrigend ist es, wenn man erkennen muss, dass man abgewiesen wird, entweder mit professioneller Freundlichkeit oder gar mit distanzierter Glätte. In solchen Momenten verfällt man schnell in Selbstzweifel, wenn das davor künstlich aufgeblähte Selbstbewusstsein innerhalb von einer Sekunde zusammenschrumpft wie ein Luftballon, dem die Luft durch ein Loch entweicht. Manchmal schleppt man dieses miese Gefühl dann tagelang mit. Das ursprünglich so positive Gefühl, das man für den anderen hatte, wandelte sich in Zorn und Ärger. Warum kann man so genau das Gesicht eines Menschen lesen, von dem man etwas will, um dann so völlig unfähig zu sein, die Hoffnung eines anderen Menschen, der uns die gleiche Qualität des Hinschauens schenkt, zu erkennen? Genau das hatte ich der Frau angetan, dieser Frau mit dem verzweifelten Blick, den ich noch lange nicht vergessen werde.
Der zweite Eindruck – nicht jeder, der wankt, ist ein Alkoholiker
Human V. arbeitet als Pfleger von MS- (Multiple Sklerose) Patienten in einem speziellen Wohnheim. „Das Allerwichtigste, was ich hier gelernt habe, ist, die Welt ohne Vorurteile zu sehen. Ich habe gleich am Anfang eine Bewohnerin betreut, die ich in meiner Zeit davor öfter bei einer U-Bahn-Station gesehen habe, die bekannt für ihre Drogenszene war. Sie fiel mir vor allem deshalb auf, weil sie so einen unsicheren Gang hatte und manchmal sogar torkelte. Da sich in dieser Gegend die Drogensüchtigen und Gestrandeten tummelten, war ich damals überzeugt, dass auch sie eine Alkoholikerin sei. Erst hier auf der MS-Station habe ich dann herausgefunden, dass sie damals schon schwer an MS erkrankt war und sich einfach so lange wie möglich ohne fremde Hilfe durchschlagen wollte. Sie war in Wahrheit so oft dort, weil sie immer makrobiotische Nahrung in einem Geschäft in der Nähe gekauft hatte. Ich habe sie dann auch darauf angesprochen und ihr gebeichtet, dass ich sie für eine Alkoholikerin hielt. Sie war dankbar für meine Offenheit und sagte dann nur: ‚So geht es mir seit 15 Jahren.‘“
Was Human V. anderen weitergeben möchte, ist, dass man Menschen, die man nicht kennt, nicht abstempeln darf. Natürlich können wir uns nicht gegen die Macht des ersten Eindrucks
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