Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
Vom Netzwerk:
jede Sekunde des Webs zu speichern und so für die Ewigkeit zu sichern, aber im Gedächtnis der Menschheit tauchen immer mehr weiße Flecken auf, für die sich niemand verantwortlich fühlt. Die Jungen sind viel zu beschäftigt mit sich selbst, um begreifen zu können, dass es nicht nur des digitalen, schnell verfügbaren Wissens des Webs, sondern, noch viel wichtiger, des lebenden Wissens einer ganzen Generation bedarf, um zu lernen.
    Die Erzählungen der Großmutter, wie es ist, wenn einem zweimal im Lauf seines Lebens alles genommen wird, was man sich aufgebaut hat, entfalten eine andere Wirksamkeit auf das moralische Bewusstsein junger Menschen als die über den Verfall der Ethik in der Wirtschaft diskutierenden Experten in der Talkshow. Ich kann heute noch die Freude mitspüren, von der mir meine Großmutter erzählt hat, als ihr verschollen geglaubter Bruder zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg plötzlich vor der Tür stand, nachdem er zu Fuß aus den Tiefen Russlands zurückgekehrt war. Immer wieder ließ ich mir als Kind von ihr diese Geschichte erzählen. Das war etwas anderes, als eine Fernsehdokumentation zu sehen oder ein Buch über den Ersten Weltkrieg zu lesen. Und ich werde nie jenen 1. Mai 1986 vergessen, als ich, fünf Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl, mit einer Freundin einen Ausflug ins Grüne machte. Unser Umweltminister hatte laut verkündet, dass wir in Österreich völlig ungefährdet von der Strahlung im „weit“ entfernten Unglücksort seien. Meine Großmutter warnte mich davor, bat mich, unbedingt zu Hause zu bleiben. In meiner grenzenlosen Naivität war ich davon überzeugt, dass es ein Umweltminister nie wagen würde, bei einer derartigen Gefährdung der Bevölkerung die Wahrheit zu unterschlagen. Nun, wie wir heute alle wissen, hatte meine Großmutter recht. Nicht weil sie hätte wissen können, dass der Regen die radioaktive Strahlung natürlich auch nach Österreich und Deutschland getragen hatte, sondern weil sie zu oft in ihrem Leben von Regierungen in Kriegen angelogen worden war, um ihnen in Krisensituationen noch Glauben zu schenken.
    Aber es geht bei Weitem nicht nur um die Vermittlung eines Geschichtsbildes aus der Sicht der Betroffenen, sondern um echtes Wissen. Der amerikanische Philosoph und Schriftsteller Mortimer J. Adler wurde 98 Jahre alt. Wann immer man ihn nach seinem Geheimnis fragte, antwortete er je nach Laune entweder kurz mit „Arbeit“ oder länger, seinen Lieblingsphilosophen Aristoteles zitierend: „Lernen ist eine Tätigkeit, die man sowohl im Alter als auch in jungen Jahren mit voller Kraft ausüben kann.“ Er ging nie in den Ruhestand, sondern plante immer das nächste Buch oder Seminar. Viele bedeutende Wissenschaftler, Künstler und spirituelle Lehrer sind weit über 70 und arbeiten mit voller Kraft. Der visionäre Medizin-Nobelpreisträger Christian de Duve ist 93 Jahre, der wichtigste lebende Leadership-Experte Warren Bennis 85 Jahre, der von mir so oft zitierte David Steindl-Rast ist 84 Jahre, Frank Gehry, der Architekt des Guggenheim Museums in Bilbao, 81 Jahre, der Entdecker des flow , Mihaly Csikszentmihalyi, ist 76 Jahre, der große Künstler Christo, der den Berliner Reichstag verhüllte und den Central Park in New York verwandelte, 75 Jahre. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die 87-jährige Swetlana Geier an der Übersetzung der fünf großen Romane Dostojewskis und gilt als größte Übersetzerin russischer Literatur ins Deutsche. Der berührende Porträtfilm „Die Frau mit den 5 Elefanten“ nähert sich ihrer Geschichte, ihrem disziplinierten Alltag zwischen Kochen, Bügeln und Übersetzen – und verknüpft dabei all die großen und kleinen, aber jedenfalls gleich bedeutenden Momente zu einem einzigartigen Lebensbild.
    Diese ganz verschiedenen Persönlichkeiten verbinden aus meiner Sicht drei Eigenschaften:
     
    1. Sie werden von gesundheitlichen Leiden geplagt, haben immer mehr Probleme mit dem Reisen, aber sie jammern nicht.
    2. Sie haben etwas weiterzugeben und aufgrund ihrer Reputation und ihres einzigartigen Talents sind sie gefragte Lehrer und Vortragende.
    3. Sie alle haben die Stufe des hohen Alters angenommen.
     
    Wäre es nicht eine schöne Vorstellung für jeden von uns, im Alter etwas weitergeben zu können und zu dürfen? Um an der Universität des Lebens lehren zu können, muss man kein Nobelpreisträger oder großer Künstler sein. Sowohl für den Einzelnen als auch für die ganze Kultur einer Gesellschaft ist

Weitere Kostenlose Bücher