Meine letzte Stunde
wie das Titelfoto eines Expeditionskatalogs. Und Richard Leider war mächtig stolz auf seine Kollektion, die er so sorgsam ausgewählt hatte. Koyie schien darüber eher sehr amüsiert zu sein, schwieg aber sehr lange und ließ sich keine Reaktion entlocken. Nach einigen Minuten stellte ihm Koyie nur eine einzige Frage: „Macht Dich das alles glücklich?“
Leider traf diese Frage ins Mark. Sie brachte sein gesamtes Wertesystem in einer Sekunde ins Wanken. Die Frage zwang ihn, nicht nur darüber nachzudenken, was er da alles auf der Trecking-Tour mitschleppte, sondern in seinem ganzen Leben. Leider stand vor der Entscheidung, sein mühsam und teuer erworbenes Zeug noch weitere drei Wochen jeden Tag durch die Hitze zu schleppen, um sich zu beweisen, dass … ja, was eigentlich? Er entschied sich, jeden einzelnen Gegenstand zu prüfen und ihn entweder auf den Haufen für den Rucksack oder den, der hierbleiben würde, zu werfen. Das war gar nicht so einfach und dauerte fast die ganze Nacht. Er redete dabei laut mit sich selbst und erklärte Koyie seine Entscheidungen.
Am nächsten Morgen erzählte Leider von der Erfahrung der langen Nacht und empfahl den Mitreisenden, ebenfalls diesen Prozess mit ihrem Gepäck zu machen. Als die ganze Gruppe am Abend deutlich „erleichtert“ wieder das Lager aufschlug, bestand ein großes Bedürfnis, ihre Entscheidungen miteinander zu diskutieren. Und natürlich konzentrierten sich die Gespräche immer mehr auf die Frage, wie man im Leben seine Last erleichtern konnte. Sie entdeckten, dass sie von Bindungen gefesselt waren, die längst nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprachen, und sie noch immer sehr von Verhaltensmustern geprägt waren, die ihnen geholfen hatten, dahin zu kommen, wo sie jetzt waren, aber sie daran hinderten, dorthin zu kommen, wonach sie sich sehnten.
Einer erzählte, dass bei seinem ersten Umzug mit seiner damaligen Freundin zwei Koffer reichten, der nächste Umzug war nur mehr mit dem großen Wagen eines Freundes möglich, später benötigte man einen Pick-up und bei seinem letzten Umzug luden vier professionelle Möbelpacker einen riesigen Transporter voll. Das Gepäck definierte ihr Leben weit mehr, als ihnen das lieb war. Die Müdigkeit des Älterwerdens hatte ganz offensichtlich weniger mit innerer Schwäche als mit immer größeren äußeren Lasten zu tun. Es wurde ihnen aber auch bewusst, dass es ihre Entscheidung war, sich einmal Zeit zu nehmen, genau hinzusehen und Ballast abzuwerfen, um dann wieder genug Kraft zu haben, um neue Ziele anzusteuern. Dafür braucht man nicht in die Serengeti zu fahren, so reizvoll das auch ist.
Umpacken, bevor man zur nächsten Etappe aufbricht
Die Erfahrung in Tansania half Leider, sein eigenes System zu entwickeln, nach dem er die Dinge in seinem Leben in Zukunft immer wieder auspackte, neu ordnete und umpackte: [3]
• Dinge, ohne die er nicht leben konnte: Das sind fundamentale Dinge wie die Kinder, der Partner, das Unternehmen, das er aufgebaut hatte.
• Dinge, ohne die er nicht leben wollte: Das waren Dinge, die er behalten wollte, weil sie zur Wertschätzung seiner Lebensgeschichte beitrugen, wie besondere Erinnerungsstücke und Geschenke.
• Dinge, bei denen er sich nicht sicher war: Das waren Dinge, wo er noch nicht bereit war, sie loszulassen, aber sie auch nicht wirklich bei der Hand haben musste.
• Dinge, die er loswerden wollte: Das waren Dinge, die längst ihre Nützlichkeit verloren hatten, die er nicht mehr als schön empfand oder die ihn sogar belasteten.
Beginnt man damit, in seinem Leben auszupacken, dann stellt sich für viele Menschen heraus, dass sie aus Gründen, die nicht wirklich existieren, weit mehr mit sich tragen, als sie eigentlich wollen.
Einer, für den die Wahl des richtigen Gepäcks nicht nur im übertragenen Sinn überlebensnotwendig ist, ist der Extremkletterer Thomas Bubendorfer: [4] „Man muss ständig umpacken. Man sollte sich ständig fragen: ‚Was brauche ich wirklich und was brauche ich noch?‘ Albert Precht, eine Kletterlegende aus meiner Gegend, der tausend Erstbegehungen gemacht hat, ist mit extrem reduzierter Ausrüstung ausgekommen. Die Frage des ehemaligen Bergbauernkindes Precht ‚Wofür brauchst Du das alles?‘ habe ich bis heute noch im Ohr. Seitdem bin ich bei gemeinsamen Touren immer derjenige, der zu wenig mithat, weil ich gelernt habe, dass mich das Zuviel einschläfert und langsam macht. Zu viel macht unfrei. Die meisten Menschen
Weitere Kostenlose Bücher