Meine letzte Stunde
es wichtig, dass reife Menschen das weitergeben können, was sie sich angeeignet haben. Für den Einzelnen heißt es, Ja zu dieser Aufgabe zu sagen. Für uns alle heißt es, Ja zu den Alten zu sagen und die Universität des Lebens offen zu halten, auch für die nächste Generation.
Leben heißt Ja sagen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Bereits im ersten Absatz seines Gedichts „Stufen“ lässt Hermann Hesse erkennen, worin für ihn die Weisheit des Lebens steckt: Dass der Mensch in jeder Phase seines Lebens voll Verlangen nach Glück ist, dieses jedoch nie lange erträgt und daher immer weiter wachsen muss, von Stufe zu Stufe. Und deshalb gehe es darum, jede dieser Stufen im Leben anzunehmen, den Tatendrang, die Ungeduld und die Unwissenheit der Jugend genauso wie eben die Beschwerden, die Einschränkungen, aber auch die Freuden des Alters. Und so sei ein Alter, der die weißen Haare hasst und die Todesnähe fürchtet, genauso ein unwürdiger Vertreter seiner Lebensstufe wie ein Junger, der ständig über die Belastungen des Studiums oder die Mühen seiner täglichen Arbeit klagt. Für Hesse kann jede Stufe die beste Stufe eines Lebens sein. Leben heißt für Hesse immer wieder „Ja“ sagen zu sich selbst. Nur der Abschluss einer Stufe befähigt den Menschen, die nächste zu nehmen. Weder verleugnet Hesse die Opfer und den Verzicht, die man im Alter bringen muss, noch idealisiert er die Krankheiten und Beschwerden. Aber für ihn ist auch diese Stufe des Lebens eine wie alle anderen, die es gelte anzunehmen wie sich selbst:
„Um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muss Ja dazu sagen. Ohne dieses Ja, ohne die Hingabe an das, was die Natur von uns fordert, geht uns der Wert und der Sinn unserer Tage – wir mögen alt oder jung sein – verloren, und wir betrügen das Leben.“ [6]
[1]
Richard J. Leider – David A. Shapiro: Lass endlich los und lebe, Heidelberg 2004, S. 41
[2]
Alle Zitate von Richard Leider in diesem Buch, die nicht mit einer Quellenangabe aus seinen eigenen Büchern versehen sind, stammen aus einem mehrstündigen Interview, das ich am 13. November 2009 in Minneapolis mit ihm geführt habe.
[3]
Richard J. Leider – David A. Shapiro: Lass endlich los und lebe, Heidelberg 2004, S. 204 f.
[4]
Das Interview mit Thomas Bubendorfer fand am 24. März 2010 statt.
[5]
George E. Vaillant: Aging Well: Surprising Guideposts to a Happier Life from the Landmark Harvard Study of Adult Development, Boston 2003
[6]
Hermann Hesse: Lebenszeiten, Frankfurt am Main 1994, S. 223 f.
II.
Die Möglichkeit des Lebens
Die kleinen Todsünden – Unachtsamkeit, Sprachlosigkeit, Lieblosigkeit, Zeitverschwendung und gute Vorsätze
Der Benediktinermönch David Steindl-Rast hielt im November 2009 einen Vortrag in Wien, der um 20.00 Uhr enden sollte. Ich hatte ihn danach als Ehrengast zum Abendessen im Kreis einiger Freunde eingeladen. Es erwies sich aber in der Praxis noch weit schwieriger, Bruder David von seinen Bewunderern, die alle lange mit ihm reden wollten, loszueisen, um ihn zu dem vereinbarten Abendessen zu bringen, als ich das ohnehin erwartet hatte. Jedem Einzelnen schenkte er seine volle Aufmerksamkeit, umarmte ihn, berührte ihn. Anschließend warteten im benachbarten Café ein bekannter Theologe, eine Dissertantin und die Veranstalter auf ihn. Es war in der Zwischenzeit weit nach 21.00 Uhr und ich musste ständig an meine abwesenden Freunde im Restaurant denken. Alle, die noch um den Tisch saßen, empfand ich als gefährliche Bedrohung, weil jeder von ihnen als Nächster eine Frage an Bruder David stellen konnte, die dieser dann freundlich und ausführlich beantworten würde. Andererseits meinte ich auch eine verdeckte Abneigung zu spüren, denn schließlich war ich es ja, der in ihr Territorium eingedrungen war, um ihren begehrten Gast zu entführen.
Der verzweifelte Blick
Nach weiteren 45 Minuten schien es endlich so weit zu sein, das Taxi wartete schon mit laufendem Motor vor der Tür und ich wollte Bruder
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