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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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er denn?“ usw.
    Überzeugungstäter auf dem Gebiet der konsequenten Nichtkommunikation finden auf Partys und Empfängen besonders geeignete Tatorte. Während sie scheinbar in ein Gespräch vertieft sind, suchen sie ständig nach einer aus ihrer Sicht größeren Beute als der, mit der sie sich gerade unterhalten. Sobald sie ein Opfer entdeckt haben, starten sie grußlos auf dieses zu. In Filmen sieht man oft Soldaten von Eliteeinheiten, die mit Nachtsichtgeräten ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, die Feinde in der völligen Dunkelheit zu erkennen. Vielleicht wird es auch einmal eine Brille geben, mit der man den unterschiedlichen sozialen Status von Menschen innerhalb einer großen Menge identifizieren kann. Das würde den sozialen Hochwildjägern die Arbeit deutlich erleichtern. Doch warum spielen fast alle immer mehr oder weniger willig mit bei diesem kindischen Spiel?
    Eines der großen Rätsel menschlichen Verhaltens ist, dass wir davon ausgehen, mit unseren Ängsten und Sehnsüchten einzigartig zu sein, und daher versuchen wir diese vor den anderen zu verbergen. Gerade wenn es uns schlecht geht, wenn wir angeschlagen sind, werden wir besonders anfällig für die Annahme, dass es allen anderen großartig geht. Aus Sorge, dass andere unsere Schwächen ausnutzen oder unsere Befürchtungen lächerlich finden könnten, verstecken wir uns hinter oberflächlichen Floskeln und Ritualen. Der große islamische Gelehrte Rumi nannte es das „offene Geheimnis“, weil es so offensichtlich ist. Wenn wir einen Bekannten nach längerer Zeit zufällig wiedersehen, steht es um unsere Ehe, die Kinder oder den Job einfach bestens. Das ist dann beim anderen, wenig überraschend, natürlich genauso. Alles reduziert sich daher auf einen Austausch von harmlosen Unehrlichkeiten, dargeboten in der Qualität von ambitionierten Laienschauspielern. Es wäre uns peinlich oder auch zu aufwendig, andere mit unserer tatsächlichen Befindlichkeit zu konfrontieren. Warum sollten wir die Decke, unter der unsere Sorgen, Gefühle, Ängste und Begierden so gut verborgen sind, anderen gegenüber auch nur kurz lüften, nur weil uns jemand „Wie geht es dir?“ fragt. So gleichen viele Gespräche des Alltags unbewusst eher den Dialogen in der Sandkiste – „Wenn Du mir Deines nicht zeigst, dann zeige ich Dir auch meines nicht“ – als der Kommunikation zwischen erwachsenen Menschen.
    Die Ironie ist, dass genau jene Dinge, die wir unbedingt vor anderen verbergen wollen, natürlich kein Geheimnis sind, weil sie jeder Mensch in seinem Herzen trägt. Würden wir unser krampfhaft verstecktes Geheimnis zeigen, käme schnell heraus, dass wir eben alle auch eine dunkle, traurige, ängstliche Seite haben, die uns von unseren Mitmenschen nicht unterscheidet, sondern uns mit ihnen sogar verbindet. Das ist auch der Grund, warum sich ein frisch Geschiedener mit einem wildfremden anderen frisch Geschiedenen sofort vertraut fühlt. Doch dieses Band verbindet nicht nur den Verlassenen mit dem Verlassenen und den Überlebenden mit dem Überlebenden, sondern es könnte alle verbinden. Rumi lehrt uns, dass in dem Augenblick, wo wir aufhören würden, uns vor den anderen zu verstecken, sich eine Türe in beide Richtungen öffnen würde. Rumi verlangt nicht, dass wir diese Türe schnell aufreißen, sondern dass wir ganz vorsichtig einen Blick auf unser Inneres freigeben. Wenn man seine eigene Türe auch nur einen Spalt öffnet, dann gewinnt die Frage „Wie geht es dir?“ eine ganz andere Qualität. [1] Denn irgendwann werden wir in jedem Fall vor einer verschlossenen Türe stehen, hinter der wir das große Unbekannte vermuten. Wenn wir bis dahin immer wieder die Gelegenheit genutzt haben, anderen die Türe zu unserem Selbst zu öffnen, wird es uns auch leichter fallen, diese letzte Türe zu öffnen.
    Human V. hat mir erzählt, dass ihn einer seiner querschnittgelähmten Bewohner jeden Tag fragte, wie es ihm denn gehe. „‚Sehr gut‘, habe ich immer geantwortet. Meistens war das auch ehrlich, und wenn ich einmal Kopfschmerzen hatte, dann kam mir das so lächerlich vor im Vergleich zu dem, was meine Patienten erdulden mussten. Eines Tages hat mir dieser Mann dann gesagt: ‚Du bist nicht ehrlich zu mir, Human. Es gibt keinen Menschen, dem es 365 Tage im Jahr gut geht. Wenn Du einmal Kopfschmerzen hast, dann ist das auch für Dich eine Beschränkung. Vergleiche Dein Leiden nicht mit anderen.‘“ Sogar das mit den Kopfschmerzen hatte der Bewohner richtig

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