Meine letzte Stunde
auf einmal ganz einfach. Allein der Gedanke an die letzte Stunde kann unsere Zunge lösen, lange bevor es zu spät ist.
Das letzte Spiel – wer nach 30 Jahren Ehe zuerst die Wahrheit sagt, hat verloren
Untersuchungen zeigen, dass die durchschnittliche Gesprächszeit zwischen Paaren ab dem 15. Jahr bei weniger als 5 Minuten am Tag liegt. Selbst wenn die letzte Stunde immer näher rückt, ist es für Partner, die seit Jahren in die Sprachlosigkeit abgerutscht sind, schwer, die Kommunikation miteinander wieder aufzunehmen. Dann fordert der kranke Mann zum Beispiel vom Arzt, seiner Frau ja nichts über seinen ernsten Zustand zu sagen, weil diese ihn nicht ertragen könnte. Die Frau wiederum weiß natürlich über seine Krankheit Bescheid und will ihrerseits vom Arzt, dass er ihren Mann mit der Wahrheit verschonen möge. Und das nach 30 Jahren Ehe. Erst ein Seelsorger hilft ihnen, sich endlich ehrlich auszusprechen. Beide waren ungeheuer erleichtert, die Täuschung aufgeben zu können und zumindest in der kurzen Zeit, die ihnen noch blieb, ehrlich miteinander umzugehen und viel von dem zu sagen, was sie einander schon lange sagen wollten. Die letzte Stunde ist kein Anlass, wie in unserer Kindheit „Verstecken“ zu spielen. [2]
Gutgemacht
„Gefühle verstecken“-Spielen ist nicht nur ein vertrautes Spiel dem Partner, sondern auch den Eltern und Kindern gegenüber. Das „Mama, ich habe Dich lieb“ des Kindes wird im Lauf des Lebens genauso wie das „Ich bin stolz auf Dich“ der Eltern immer seltener. Niemand käme auf die Idee, einer Pflanze das Wasser zu verweigern, nur weil sie älter wird. Woher nehmen wir die Gewissheit, dass die Sehnsucht nach Bestätigung der Liebe im Alter ab- und nicht zunimmt, bei Kindern und bei Eltern?
Ich kenne einen sehr erfolgreichen Unternehmer, der trotz schwieriger Startbedingungen als Waisenkind eine unglaubliche Karriere gemacht hat. Natürlich wollte er seinen drei Kindern all das bieten, was er nicht hatte. Beste Privatschulen, ein Studium an einer Top-Universität im Ausland sollten ihnen ein tolles Leben ermöglichen. Zwei Kinder erfüllten diese Erwartungen, ein Sohn ist heute bei einer internationalen Unternehmensberatung tätig, die Tochter eine sehr erfolgreiche Anwältin. Nur der älteste Sohn fiel aus dem Rahmen. Zwar war er der begabteste Schüler seiner Klasse, machte das Abitur seinem Vater zuliebe sogar mit hervorragenden Noten, doch danach weigerte er sich, zu studieren, zog in eine kleine Genossenschaft auf dem Land und lernte das Tischlerhandwerk. Er lebte richtig auf und liebte es, ohne Druck handwerklich hochwertige Produkte herzustellen. Das Verhältnis zu seinem Vater blieb zwar gut, doch wann immer sie sich zu längeren Gesprächen trafen, konnte dieser nicht widerstehen, ihn zu motivieren, ein ertragreicheres Geschäftsmodell für sich zu entwickeln. So könnte er doch die natürlich hergestellten Möbelstücke mit einem Markennamen versehen und direkt über das Internet vertreiben. Die Nachfrage nach Vollholzmöbeln sei steigend, das Marktpotenzial ließe sich mit geringen Vertriebskosten leicht erschließen. Er freue sich, dass sein Sohn so glücklich als Tischler sei, es störe ihn überhaupt nicht, er wolle ihm doch nur helfen, seinen Ertrag zu steigern, um auch zu ein bisschen mehr Wohlstand zu kommen. Der Sohn versuchte dann die Gespräche so schnell wie möglich zu beenden, ohne seinen Vater zu verärgern, der sich in seine Expansionspläne immer mehr hineinsteigerte.
Dann kam die Krise des Jahres 2008. Der Vater verlor fast alles, was er sich in den letzten 30 Jahren aufgebaut hatte. Er fand aber den Mut zum ersten ehrlichen Gespräch mit seinem Sohn seit langer Zeit: „Natürlich habe ich daran gelitten, dass Du nur Tischler geworden bist, das war für mich fast unvorstellbar, obwohl ich es nie direkt ausgesprochen habe. Heute ist eine Entschuldigung angebracht. Vielleicht waren meine Ideen für Dein Geschäftsmodell doch nicht so gut. Ich muss gestehen, dass ich von Dir gelernt habe, auch wenn es mir nicht leicht fällt, mir das einzugestehen. Du bist als Tischler im Augenblick eindeutig besser unterwegs als ich.“ Der Sohn umarmte seinen Vater und sagte nur einen Satz: „Du hast es gutgemacht.“
Richard Leider erzählt mir von der letzten Begegnung mit seiner Mutter, die in der Intensivstation im Koma lag. Er kam gerade rechtzeitig von einem Seminar angereist, um sie noch lebend anzutreffen. Sie war nicht bei Bewusstsein und kämpfte
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