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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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wehren, aber wir sollten zumindest manchmal einen zweiten, genaueren Blick wagen. Erst durch seine intensive Arbeit als Pfleger habe er gesehen, wie viele Menschen aufgrund ihrer Krankheiten auf der Straße nicht gerade gehen können, obwohl sie keine Alkoholiker sind.
    Die Unterlassung
    Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben. Den Rest habe ich einfach verprasst.
    George Best
     
    Wir gehen unseren Lebensweg entlang und begegnen allen möglichen Problemen. Wenn man über eine belebte Einkaufsstraße geht, wird das zum Slalomlauf zwischen den Bettlern. Sie bekommen den Hilfe suchenden Blick eines anderen Menschen und dann müssen Sie die Fortsetzung dieses Blicks in Ihr Inneres weiter verfolgen. Da wird man manchmal müde, den Blick der Bettler überhaupt zu akzeptieren. Man hat ein schlechtes Gewissen, vielleicht denkt man auch daran, dass einem das selbst widerfahren könnte oder rechtfertigt sich mit dem Gedanken daran, dass die meisten zu professionellen Banden gehören und ohnehin fast nichts von dem Geld behalten dürfen. Wenn einen dieser Blick dann doch trifft, funktioniert die Blockade nicht so gut. Das lässt sich nicht auf die Frage reduzieren, ob man einem Bettler etwas gibt oder nicht, das hat viel mehr mit uns selbst zu tun als mit dem Bettler.
    Ein guter Freund von mir, der anderen in seinem Umfeld immer sehr geholfen hat, entwickelte eine persönliche Beziehung zu einem Verkäufer einer Obdachlosenzeitung, der stets in der Nähe seines Hauses stand. Er tauschte sich mit ihm über den Gang der „Geschäfte“ aus. Einmal beklagte er sich über einen großen Kredit, den ihm seine Hausbank gerade für ein Projekt fällig gestellt hatte. Der Obdachlose antwortete: „Meine Geschäfte gehen in der Krise auch deutlich schlechter.“ Auf diese Weise fand er heraus, dass der Obdachlose von der Krise durch nachlassende Spendenbereitschaft so getroffen wurde wie er durch die mangelnde Kreditbereitschaft der Banken. Er gab ihm großzügig Geld, aber so maßvoll, das der damit beschaffte Alkohol nicht das Leben seines „Geschäftspartners“ gefährden konnte. Dann verschwand dieser trotzdem und kam nie mehr wieder. Mein Freund fand heraus, dass er gestorben war. Und plötzlich machte er sich Vorwürfe, dass er ihn nicht einmal zum Essen eingeladen hatte. Aus meiner Sicht eine ziemlich überzogene Form der moralischen Selbstgeißelung, noch dazu für einen derart sozialen Menschen wie ihn. Aber er aus seiner Sicht hatte das Gefühl, etwas unterlassen zu haben, und das machte ihm zu schaffen. Es dauerte lange, bis ich begriff, worum es ihm ging: Es war seine Überzeugung, dass ihn die Tatsache, dass er es oft richtig gemacht hatte, nicht von der nächsten Prüfung befreite. Das kann bei jedem etwas anderes sein. Es hat immer damit zu tun, sich einer Sache oder eines Menschen anzunehmen. Der eine übernimmt eine Patenschaft für ein Kind, ein anderer arbeitet selbst an der Errichtung eines Spitals mit und ein dritter gibt jemandem, der verzweifelt zu ihm kommt, Hoffnung. Die Angebote im Leben, menschlich nicht zu versagen, sind unvorstellbar reichlich. Der „Ich habe schon gegeben“-Aufkleber schützt zwar davor, nochmals vom Roten Kreuz angesprochen zu werden, aber er beinhaltet die Gefahr, den Ruf, der für uns bestimmt ist, nicht zu hören. Der erste Schritt ist immer das Erkennen, dass das ein Angebot an uns war: „Du bist gemeint, niemand anderer.“
    „Wie geht es Dir?“
    Hinter der Frage „Wie geht es Dir?“ steckt meist die Aufforderung zur Beihilfe zur kleinen Unaufrichtigkeit. Der, der fragt, will natürlich alles, nur ja nicht wissen, wie es dem anderen wirklich geht. Oft ersetzt die Frage auch nur die Grußformel „Guten Tag“ oder soll die Peinlichkeit übertünchen, dass man den Namen des anderen vergessen hat. Der andere antwortet reflexartig mit „Danke, sehr gut“ und, so er gut erzogen ist, fügt er noch „Und wie geht es Dir?“ an, was dem ursprünglich Fragenden die Chance gibt, mit „Danke, sehr gut“ zu antworten. Damit ist eigentlich alles gesagt. „Mir geht’s gut und wie geht’s Dir, geht’s Dir genauso gut wie mir?“ ist die Kurzformel für das absolute Desinteresse am anderen. Es sei denn, beide fühlen sich verpflichtet, das Gespräch noch ein bisschen auszudehnen. „Hast Du schon gehört, dem Hubert geht es gar nicht gut“, wird der Kreis der Belanglosigkeiten dann um eine Runde erweitert. „Das ist aber schade, was hat

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