Meine letzte Stunde

erraten, obwohl er es bis dahin gar nie angesprochen hatte. Human V. merkte, dass sich dieser Bewohner wirklich für ihn interessiert hatte und das „Wie geht es dir?“ nicht nur eine Floskel war. Er begann sein Verhalten auch anderen Bewohnern gegenüber zu ändern, und auf einmal wurden die Gespräche tiefer, die Patienten freuten sich ehrlich an seinen Urlauben, sogen seine Erzählungen von Meer und Strand auf und konnten an seinen Erfahrungen teilhaben, die ihnen für immer verwehrt bleiben würden. Sie nahmen Anteil an seinem Leben und er an ihrem. Er wagte es dann immer öfter, ihnen ehrlich zu sagen, wenn es ihm einmal wirklich nicht gut ging.
    Es gebe viele Beispiele, wo Menschen besonders achtsam miteinander umgehen. So habe er beobachtet, wie ein Bewohner von einem ebenfalls schon alten Freund besucht wurde und sich die beiden im Kaffeehaus getroffen hätten. Der eine fragte den anderen: „Wo möchtest Du sitzen?“ Der andere antwortete: „Auf welchem Ohr hörst Du denn besser?“ Es ist dieses genaue Hinhören und Hinschauen, das uns die Türen zum anderen öffnet. Das offene Geheimnis des Mitmenschen verbirgt sich in den kleinsten Falten seines Gesichts, in den Zwischentönen seiner Sprache und in den nur erahnbaren Reaktionen seiner Gestik. Wie leicht sind diese zu überhören und übersehen, zum Teil aus Ignoranz, zum Teil aus Unfähigkeit und zum großen Teil, weil wir es einfach nie gelernt haben. Und wenn wir schon so oft an der Kommunikation in den kleinen Dingen scheitern, wie schwer tun wir uns erst, wenn es um die ganz großen geht.
    Die nicht kommunizierte Liebe
    Der Schmerz einer zerstörten Hoffnung lässt nicht so schnell nach. Trotzdem tun wir uns schwer, dem anderen, der uns so tief getroffen hat, dafür einen Vorwurf zu machen. Nicht weil er aus Ahnungslosigkeit und ohne den Willen, uns zu verletzen, gehandelt hat, können wir ihm nicht die Schuld am Herzstich geben, sondern weil wir die wahre Ursache nur zu genau kennen – unsere Unfähigkeit, Liebe zu kommunizieren. Du lernst jemanden kennen, Du triffst Dich mit ihm, Du entdeckst viele Gemeinsamkeiten, Du gehst ins Kino und der Wunsch, dem anderen Deine Liebe zu gestehen, wird immer größer. Um wie vieles ist es leichter, in der Fantasie gemeinsame Reisen zu planen, als die entscheidenden Worte zu sprechen. Du siehst Dich stolz mit Deinem neuen Lebenspartner durch die Straßen spazieren und stellst ihn Deinen besten Freunden vor. Du bist so richtig verliebt, wagst es aber nicht, dem anderen die entscheidende Frage zu stellen, lieber sprichst Du stundenlang mit einem Vertrauten darüber. Du begehst eine der größten Sünden überhaupt – die Sünde der nicht kommunizierten Liebe; die nicht kommunizierte Liebe zu sich selbst, zu seinem Partner, zum heimlich Geliebten, zu seinen Kindern und zu seinen Eltern. Und so schieben wir das auszusprechen, wonach wir uns am meisten sehnen, ununterbrochen vor uns her, oft bis es zu spät ist. Die „nicht kommunizierte Liebe“ kann ein so großes Loch in unser Seelenheil reißen, dass wir sie in unserer letzten Stunde nicht mehr mit einer einfachen Plombe ausfüllen können. Das fühlt sich an wie Zahnschmerzen im Herzen, gegen die es kein Mittel gibt. Ein Leben ohne Liebe ist immer ein unvollendetes Leben. Sprachlosigkeit ist für die letzte Stunde sehr gefährlich. Alle unausgesprochenen Worte der Liebe kommen dann noch einmal hoch.
    Ob, wenn wir sterben, unser ganzes Leben nochmals an uns vorüberzieht, wie das viele „Nah-Tote“ erzählen, wissen wir nicht. Sicher ist, dass wir alle unerfüllten Wünsche umso stärker spüren, je älter wir werden. Irgendwann kann man Liebe nicht mehr aussprechen oder es ist zu spät, wie bei Cyrano de Bergerac und Roxane. Wir fürchten uns vor der Unumkehrbarkeit des Krebses, aber wir haben keine Ahnung, welche schmerzhafte Not in der Magengrube entstehen kann, wenn wir es aus welchem Grund auch immer nicht zuwege gebracht haben, unsere Liebe rechtzeitig auszudrücken.
    Wenn Dir heute der Mut gegenüber einem ganz bestimmten Menschen, der Dir wichtig ist, fehlt, dann hole Dir Deine letzte Stunde als Freund und siehe die Situation aus dieser Perspektive. Das schafft Klarheit. Ist es eine verspielte Laune, Abenteuerlust, der kindische Wunsch nach Selbstbestätigung? Oder geht es um etwas viel Tieferes, von dem man schon jetzt ahnt, dass einen jedes innere Aufflackern dieser nie ausgesprochenen Liebe noch lange das Herz zusammenziehen wird? Es wird dann