Meine letzte Stunde
schwer mit dem Atmen. Er war allein mit ihr in dem Zimmer und wusste nicht, was er tun sollte. Da stand er auf, nahm seine Mutter in die Arme und sagte: „Mutter, danke, es ist Zeit, zu gehen.“ Als er „Danke“ gesagt hatte, öffnete sie plötzlich ihre Augen, machte noch zwei Atemzüge und verstarb dann in seinen Armen. „In diesem Augenblick habe ich mehr über Bestimmung gelernt als in all meinen Seminaren und Büchern. Diese Erfahrung war sehr konkret. Am Ende unseres Lebens brauchen wir keinen großen Schlussapplaus, wir brauchen so etwas wie eine Vervollständigung, eine Vollendung. Meine Mutter war ihr Leben lang eine Hausfrau, die sich um die Familie gekümmert hatte. Für sie war daher die Bestätigung wichtig, dass sie ihre Aufgabe gut erfüllt hatte.“
„Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“ muss nicht heißen, auf ein Wort Gottes zu warten, denn wenn Gott ständig in uns ist, können wir dieses eine Wort jederzeit selbst zu einem anderen sagen. Man muss kein gläubiger Christ sein, um die Kraft zu verstehen, die in dem einen Satz liegt, den wir einem Menschen sagen können, der sich danach sehnt. Diesen einen Satz irgendwann über seine Lippen zu bringen oder nicht, kann zwei Leben ändern: das eines anderen Menschen und das eigene.
Wir unterschätzen die Macht, die eine Berührung, ein Lächeln, ein freundliches Wort, ein offenes Ohr oder eine ehrliche Anerkennung haben kann. Dafür sollten wir uns alle Zeit der Welt nehmen, denn genau dort liegt unsere größte Sehnsucht. Wer sein Leben lang andere Menschen keines Blickes würdigt, wird in seiner letzten Stunde möglicherweise nicht sehr beachtet werden. Die Summe jeder ehrlichen Frage nach dem Wohl des anderen, jedes tatsächlichen Blickes, jeder aufrichtigen Berührung und jedes mutigen Wortes wird am Ende des Tages wieder zurückkommen.
Zeit ist Leben
„Ich habe keine Zeit gehabt“ ist der wohl dümmste Satz, wenn man vor sich selbst ein Leben zu rechtfertigen versuchen will, in dem man all die Dinge, die einem wichtig gewesen wären, verpasst hat. Keine Zeit für etwas zu haben bedeutet nur, dass uns etwas anderes im Augenblick wichtiger ist. Und ein Leben, das aus einer Summe von solchen Augenblicken besteht, ist ein vergeudetes Leben. Die größte Plattheit in unserer Leistungsgesellschaft lautet: „Ab jetzt werde ich mir mehr Zeit nehmen für Freunde, Partner, Kinder usw.“ Das ist die Lebenslüge schlechthin. Gute Vorsätze gehören zu den schwächsten Motivationen überhaupt, sie funktionieren weder in den großen noch in den kleinen Dingen. „Ein guter Vorsatz ist ein Startschuss, dem meist kein Rennen folgt“, hat der Schauspieler Siegfried Lowitz gesagt. So diskutieren wir intensiv darüber, dass die Ressourcen unseres Planeten begrenzt sind – und wir ändern wenig daran, wie wir leben, um diese sorgsamer zu nutzen. Wir wissen fast alles – aber wir tun fast nichts. Die wichtigste Begrenzung unseres eigenen Lebens verdrängen wir noch mehr.
Wir weigern uns, ein Joghurt zu essen, wenn dessen Ablaufdatum deutlich überschritten ist, aus Furcht vor dem ekelhaften Geschmack verdorbener Milch. Dass wir aber unser eigenes Ablaufdatum gar nicht kennen, macht uns offensichtlich weit weniger Sorgen, wenngleich der bittere Geschmack einer unvorbereiteten letzten Stunde weit schlimmer ist. Das Ablaufdatum des Joghurts ist offensichtlich essenzieller für uns als das unseres Lebens. Wenn wir erkennen, wie wertvoll der Schatz der frei verfügbaren Zeit unseres Lebens ist, dann ist es manchmal zu spät. „Zeit ist eben nicht Geld“, sondern „Zeit ist Leben“. Die Wurzel unserer Zeitprobleme liegt nicht darin, dass wir zu wenig von dem scheinbar so knappen Rohstoff besitzen, sondern dass wir nie gelernt haben, mit ihm umzugehen.
„Nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu: wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch. Wie großer fürstlicher Reichtum in der Hand eines nichtsnutzigen Besitzers, an den er gelangt ist, sich im Augenblick in alle Winde zerstreut, während ein, wenn auch nur mäßiges Vermögen in der Hand eines guten Hüters durch die Art, wie er damit verfährt, sich mehrt, so bietet unser Leben dem, der richtig damit umzugehen weiß, einen weiten Spielraum.“ [3]
Leben heißt auswählen
„Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wussten nicht, dass Zeit haben nichts anderes heißt, als keine Zeit für alles zu
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