Meine letzte Stunde
Post erlebt, wie dort fast jeder Beamte einen über Jahre hinausreichenden „Stundenfresser“ bis zur Pension hatte. Wie in einem guten Spionagefilm hätte man sie um vier Uhr früh aufwecken können und sie hätten nicht nur ihren Namen, sondern auch das exakte Datum ihres Pensionsantritts wiedergeben können. Bei manchen hatte ich den Eindruck, dass sie eigentlich von Geburt an davon träumten, in Pension zu gehen. Ihr heimlicher Berufswunsch war von Anfang an, Pensionist zu werden. Jugend, Familie und Arbeit stellten für sie nur lästige Zwischenstationen auf dem Weg ins Ruhestandsparadies dar. Die Studien zur Lebenszufriedenheit zeigen nun ganz eindeutig, dass Menschen, die nicht ihr ganzes Lebens aktiv und bewusst gelebt haben, dazu leider auch in der Pension nicht fähig sind. Die einfache Wahrheit lautet: Wer nicht mit Freude arbeiten kann, kann auch seine freie Zeit nicht genießen. „Wer nicht genießt, ist ungenießbar“, singt Konstantin Wecker.
Wenn man Arbeit nur als notwendiges Übel sieht, wird man alles tun, um diese so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Doch wenn wir die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, etwas hinter uns zu bringen, machen die wohl bald die Hälfte unserer Lebenszeit aus. Vor allem gestandene Gewerkschafter haben ihr biblisches Verständnis von Arbeit als „Strafe Gottes“ nie überwunden: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen, bis dass Du in den Himmel der Pension eingehst.“ Dass für viele Menschen ihr Beruf etwas ist, das ihnen Freude macht und ihrem Leben Sinn verleiht, ist für sie schlicht unvorstellbar. Immer mehr Menschen denken nicht nur in Jobs und Karrieren, sondern sehnen sich nach Sinn und Selbstbestimmung in ihrer Arbeit. Die gute Nachricht ist, dass sinnvolle Arbeit kein knappes Gut sein müsste: Einsamkeit, Umweltbedrohung, Unwissenheit genauso wie das Suchen nach sozialen, künstlerischen und technischen Innovationen – es gibt wahrlich genug zu tun. Wir sollten nur aufhören, noch mehr von den falschen Dingen zu tun. „Geschäftstätigkeit, die nichts zum menschlichen Wohlergehen beiträgt, ist es nicht wert, getan zu werden, unabhängig davon, wie viel Gewinn sie in kurzer Zeit abwirft“, sagt der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi. [2] Als ersten Schritt könnten wir den Kindergärtnerinnen, Lehrern und Altenpflegern jenen Stellenwert geben, den sie verdienen.
Lob, Lust und Frust
Will man ein erfülltes Leben führen, ist die strikte Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit völlig unbrauchbar. Jeden Tag, wenn wir aufstehen, geht es um eine ganz andere Frage: Werden wir alles geben, das in uns steckt? So geht es beim Tischler um seinen Anspruch an einen Tisch oder Sessel, um die bestmögliche Qualität, die er sich vorstellen kann, weil sie ihm wichtig ist. Leider gibt es immer Menschen, die etwas machen, bei dem ihnen in Wirklichkeit völlig egal ist, ob das Ergebnis gut ist oder nicht. Sie betrügen nicht nur andere, sondern vor allem sich selbst. Das betrifft alle Formen des Schaffens, unabhängig vom Status und vom Einkommen: von der Verkäuferin, die den Kunden ehrlich berät oder schnell zum Abschluss kommen will, über den Lehrer, der auf Kinder eingeht oder nur seinen Stoff durchpaukt, und dem Busfahrer, der auf den Passagier wartet oder ihm die Tür vor der Nase zuknallt, bis hin zu Mutter und Vater, die ihrem Kind helfen, jeden Tag die Welt ein bisschen besser zu verstehen oder sich missmutig dessen Neugier verweigern, weil es sie zu sehr anstrengt.
Die eine Seite ist der Anspruch an die eigene Arbeit, die andere, welche Wertschätzung wir der Arbeit anderer entgegenbringen. Bei einigen tun wir uns da ganz leicht: Der Dirigent und das Orchester erhalten oft minutenlangen Applaus für die vielen Stunden des täglichen Trainings, aber auch für ihre Anstrengung, einer Komposition immer eine neue Dimension zu entlocken. Auch bei Ärzten fällt es uns ganz leicht, ehrliches Lob zu spenden, wenn sie uns von einer Krankheit geheilt oder gar mit einer Operation das Leben gerettet haben. Feuerwehrmänner sind seit 9/11 überall auf der Welt große Helden. Doch in wie vielen Berufen erhalten Menschen für ihre Bereitschaft, ihr Bestes zu geben, nie ein einziges Wort der Bestätigung, weder von ihren Vorgesetzten noch von ihren Kunden? So wird das Bemühen einer Verkäuferin, jeden Tag auch im ärgsten Stress freundlich zu sein, als völlig selbstverständlich genommen. Wenn
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