Meine letzte Stunde
wechseln, der einen mit Freude erfüllt? Viele spannende Lebensgeschichten finden abseits dieser engen Trampelpfade statt.
In Seattle gibt es eine Truppe von Fischhändlern, die es mit ihrer Show beim täglichen Fischverkauf von lokaler Bekanntheit zu Weltruhm gebracht haben. Ihre Geschichte erzählen das Buch und der Film „FISH!“. In New York gibt es einen Taxifahrer, der seinen Gästen eine Auswahl von Zeitungen und Erfrischungen anbietet. Er hat sich zum Ziel gesetzt, der beste Taxifahrer von New York zu sein. In Wien gab es den legendären Herrn Robert, der im Café Landtmann die begehrten Fenstertische wie ein Herrscher in seinem Reich verteilte. Man konnte Millionär, Minister oder Popstar sein, wenn einen der Herr Robert nicht erkannte, dann war man niemand in Wien. Hätte eine ausländische Macht möglichst schnell einen Überblick über alle Staatsgeheimnisse, Wirtschaftsskandale und Affären gewinnen wollen, sie hätte nur den Herrn Robert entführen müssen, er wusste alles. Zu seinem Abschiedsfest kamen der Wiener Bürgermeister, die halbe Bundesregierung, die Chefredakteure der führenden Medien, Filmstars, alles was Rang und Namen hatte oder es zumindest glaubte, um ihm die Aufwartung zu machen. Es gibt in jeder Stadt und in jedem Dorf Menschen, die ihren ganz normalen Beruf ein bisschen anders ausüben, ihm ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken. Auch wenn das manche seltsam finden, sie haben ihre Freude daran – und ihre Kunden auch. Für mich haben sie etwas gemeinsam mit dem Zen-Meister Suzuki, der gesagt hat: „Ich bin ein Lebenskünstler, und mein Kunstwerk ist mein Leben.“
Die vergängliche Schönheit eines Regenbogens
Am 16. November 2009 erzählte Christo in seiner New Yorker Wohnung in bester Stimmung zwei Stunden lang über bulgarische Geschichte und sein neues Projekt „Over The River“. Seine Frau und künstlerische Partnerin Jeanne-Claude entschuldigte er, da sie die für den nächsten Tag geplante Reise nach Washington D. C. vorbereiten müsse. Für Christo und Jeanne-Claude besteht Kunst aus keinen Dingen, die man kaufen kann, sondern aus dem Prozess der Vorarbeit und den Gefühlen, die sie bei den Menschen auslösen. 24 Jahre dauerte es, bis sie ihr Projekt „Verhüllter Reichstag“ verwirklichen konnten. Alle, die live dabei waren, bestätigten die fast heilige Atmosphäre, die auf dem Platz herrschte. Noch länger dauerte es, bis sie den New Yorker Central Park im Jahr 2005 mit den safrangelben „Gates“ in ein Gesamtkunstwerk verwandeln durften. Jeder Schritt, den man im Central Park machte, veränderte die individuelle Perspektive und damit auch das Kunstwerk. 16 Tage lang waren die 7503 „Gates“ im Central Park zu sehen. 26 Jahre hatten sie dafür gekämpft. „Die Kunst ist eine Sache des Augenblicks“, sagten Christo und Jeanne-Claude, „so wie auch im Leben nur der Augenblick zählt.“
Ich war tief getroffen, als ich erfahren musste, dass Jeanne-Claude zwei Tage nach meinem Besuch völlig unerwartet verstorben war. Jeanne-Claude hat immer davon gesprochen, dass dadurch, dass ihre Werke nie von Dauer seien, eine Dringlichkeit entstehe, sie zu sehen. Wenn man jemandem einen Regenbogen zeige, dann werde er auch nicht antworten: „Den schaue ich mir erst morgen an.“ Das Sichtbare im Werk von Christo und Jeanne-Claude ist immer nur wenige Tage zu sehen, die Wirkung des Unsichtbaren wird sie beide lange überleben.
Vom Sichtbaren und vom Unsichtbaren
Eine Geschichte erzählt von einem Mönch im Mittelalter, der weit über zehn Jahre an einer Christusstatue gearbeitet hatte, um seine Arbeit nach ihrer Vollendung stolz dem Abt des Klosters zu präsentieren. Der Abt war überwältigt von der Genauigkeit und Schönheit des Meisterwerks der Holzschnitzkunst. Er habe noch nie in seinem Leben etwas so Wundervolles gesehen, gestand er dem Mönch. Gemeinsam gingen sie in die Stiftskirche zum Hochaltar und mauerten die Statue an der vorgesehenen Stelle im Seitentrakt ein. Nachdem beide gebetet hatten und der Abt die Statue gesegnet hatte, fragte er den Mönch: „Du hast ja genau gewusst, dass wir die Statue so anbringen werden, dass die Rückseite nie von jemandem gesehen werden kann. Trotzdem hast Du viele Jahre mit dem gleichen Aufwand an der Rückseite wie an der Vorderseite gearbeitet. Warum hast Du das getan?“ – „Gott sieht es“, antwortete der Mönch.
Wir sollten nie vergessen, irgendwer sieht uns immer zu, auch wenn wir es gerade nicht
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