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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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Lkw-Fahrer zeichne aus, dass er nach vorne schaue, das Ganze im Blick habe. Studer hat zwei DIN-A-4-Seiten angelegt, auf denen er die unterschiedlichen Streckeneigenschaften und die Abfertigungsmodalitäten an Grenzen notiert hat. Intelligent zu fahren heiße vor allem, Staus rechtzeitig auszuweichen.
    Der 61 Jahre alte Lkw-Fahrer Markus Studer arbeitet erst seit viereinhalb Jahren in dem Beruf. Er ist ein Quereinsteiger. Davor war er Arzt, und nicht irgendeiner. In der Königsdisziplin der Medizin, der Herzchirurgie, war er Oberarzt an der Universitätsklinik Zürich und leitender Partner des privaten Zürcher Herzzentrums Hirslanden. 4000 Brustkörbe hat er fachmännisch geöffnet, um danach Herzen freizulegen und sie mit Klappen und Bypässen zu versehen. Den Grund, warum er aufgehört hat, beschreibt er mit zwei Kurven. Die Erfahrungskurve eines Chirurgen geht von unten nach oben, die Leistungs- und Konzentrationskurve steige zwar auch erst steil an, um dann aber abzufallen. An jenem Punkt, wo diese beiden Kurven sich schneiden, soll man aufhören, und genau das habe er getan. Er empfindet seine neue Tätigkeit als Lkw-Fahrer keineswegs als Abstieg, denn er hat in seinem ersten Leben genug verdient, um für sich und seine Familie das Auslangen zu finden. Daher fährt er jede Woche nur fünf Tage. „Es ist schon ein Privileg, neu anfangen zu können.“ Nun kann er am Wochenende genug Zeit mit seiner Frau verbringen, mit der er seit 33 Jahren verheiratet ist (die drei Kinder sind schon aus dem Haus), am Wochenende spazieren gehen, ohne ständig auf Ausflügen auf sein Mobiltelefon oder seinen Pager achten zu müssen. Niemals käme er auf die Idee, seinen Doktortitel zu seinem Namen auf die Brusttasche seines blauen Fahrer-Polohemds sticken zu lassen oder sich gar als Arzt vorzustellen. Er hat seinen Zenit als Herzchirurg überschritten und arbeitet daran, seinen Zenit als Lkw-Fahrer zu erreichen. Eine mehr als ungewöhnliche Karriere, zu der es sehr viel Mut bedurfte. Das muss eine andere Art von Mut sein, als trotz der inneren Gewissheit der nachlassenden Konzentrationsfähigkeit weiter am offenen Herzen anderer Menschen zu operieren. [4]
    Das Leben als Kunstwerk
    Kein Satz des Aktionskünstlers Joseph Beuys hat mehr Widerspruch ausgelöst als dieser: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Er hat damit natürlich nicht gemeint, dass jeder Mensch Malen, Schreiben, Fotografieren oder Tanzen als Beruf ausüben soll. Er wollte auf die Möglichkeit hinweisen, dass in jeder Tätigkeit ein Hauch von Kreativität, Fantasie und Großartigkeit steckt.
     
    Lass Dich fallen.
Lerne Schlangen zu beobachten.
Pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemand Gefährlichen zum Tee ein.
Mache kleine Zeichen, die „Ja“ sagen
Und verteile sie überall in Deinem Haus.
Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue Dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen.
Schaukel so hoch Du kannst mit einer Schaukel bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen.
Verweigere Dich, „verantwortlich zu sein“.
Tu es aus Liebe.
Mach eine Menge Nickerchen.
Gib Geld weiter. Mach es jetzt. Das Geld wird folgen.
Glaube an Zauberei.
Lache eine Menge.
Bade im Mondlicht.
Träume wilde, fantasievolle Träume.
Zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell Dir vor, Du wärst verzaubert.
Kicher mit Kindern. Höre alten Leuten zu.
Öffne Dich. Tauche ein. Sei frei.
Preise Dich selbst.
Lass die Angst fallen.
Spiele mit allem.
Unterhalte das Kind in Dir.
Du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken.
Werde nass.
Umarme Bäume.
Schreibe Liebesbriefe.
    Joseph Beuys zugeschrieben
     
    Für 90 Prozent aller, die davon träumen, etwas Kreatives oder Künstlerisches zu tun, ist bald erkennbar, dass ihr Talent eben nicht ausreicht, um ein Star zu werden. Sollen sie deshalb ihre Gabe einfach aufgeben, ihr Talent wegschmeißen? Gibt es zum Superstar nur die Alternative des ständig mit dem Überleben kämpfenden unbekannten Handlungsreisenden in Sachen Mittelmäßigkeit? Oder ist der Weg des leidenschaftlichen Amateurs, der Freude am Theaterspielen, Malen, Schreiben, Tanzen, Singen und Filmen hat, nicht vielleicht doch eine reizvolle Alternative? Findet sich die Freude am eigenen Schaffen nicht eben genau in den riesigen Räumen, die sich zwischen dem Alles oder Nichts auftun? Darf eine Karriere wirklich nur immer nach oben führen und darf man nie von einem sozial angeseheneren Beruf, der einen nicht mehr erfüllt, in einen mit weniger Status

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