Meine letzte Stunde
ihr mal ein Fehler unterläuft, rasten manche Kunden wegen einer Kleinigkeit völlig aus. Statt zu urteilen und verurteilen, sollten wir andere ermutigen, vor allem wenn sie ihre Arbeit mit Herz tun. Es ist unglaublich, welche Reaktionen man erhält, wenn man Menschen darin bestärkt, wie sie ihre Arbeit verrichten.
Kann man überhaupt in jeder Arbeit Freude finden? Ist das nicht nur wenigen Menschen in privilegierten Berufen möglich, die einfach das Glück hatten, dort zu landen, wo sie sich entfalten konnten? Das von mir hoch geschätzte Wirtschaftsmagazin „brand eins“ schildert oft Lebenswege von Menschen, die ganz andere Verläufe haben als die Karrieren, die immer nur von unten nach oben führen, von weniger Status zu mehr, von weniger Geld zu mehr, von weniger Mitarbeitern zu mehr. Die zwei ausgewählten Beispiele zeigen, dass es viele Wege von weniger Glück zu mehr gibt. Man muss sie nur für sich entdecken, die Freude am eigenen Tun.
Die Diva
„Als ich 50 war, starb mein Agent. Von da an war ich ein Auslaufmodell. In dieser Branche investiert kein Mensch in einen Sänger, der vielleicht noch ein paar gute Jahre hat. Ich war sehr gut, aber ich war kein Weltstar. Heut kriegst du sogar nach 30 nicht einmal mehr ein Vorsingen. Ich hab’ mit 32 das erste Engagement gehabt, das wäre in dieser hastigen Zeit kaum noch möglich.“ Das, was man auf den ersten Blick als wehmütige Anklage über die Undankbarkeit der Welt interpretieren könnte, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine Erfolgsgeschichte der anderen Art. Längst im Rentenalter und 15 Jahre nach ihrem letzten Bühnenauftritt als umjubelte Violetta in Verdis „La Traviata“ an der Breslauer Oper, schlägt die amerikanische Sopranistin Julie Griffeth dem Schicksal ein Schnippchen, sucht und findet ihr Publikum fern der großen Opernsäle auf kleinstädtischen Bühnen und in Versammlungssälen. Etwaige Zweifel, einen Abend an eine alternde Operndiva verschwendet zu haben, erstickt sie bereits nach den ersten Takten mit ihrer kraftvollen, jung und geschmeidig klingenden Stimme im Keim. Nichts klingt forciert oder ältlich, diese Frau singt auch gegen die Zeit und gegen das Vergessen an. Das berührt ihr Publikum. Zum Abschluss ihres „etwas anderen Liederabends“ im mecklenburgischen Städtchen Wittenburg singt sie die Arie Eboli aus Verdis „Don Carlos“ mit so viel Energie, dass ihre Stimme die Wände des kleinen Rathaussaals vibrieren lässt. Nur noch übertönt vom langen Schlussapplaus und den Bravo-Rufen der zirka 60 musikinteressierten Kleinstädter. Wie schafft Julie Griffeth das?
„Üben“, sagt sie, denn Können sei das Produkt aus Talent und Fleiß. Vier Monate hat sie täglich geübt, um Körper und Seele für diesen Auftritt vorzubereiten. Natürlich hilft ihr auch die jahrelange Erfahrung, die perfekte Beherrschung der Technik. „Eine gute Technik ist die Veredelung des Urschreis, der aus der Mitte des Körpers und des Wesens kommt. Und wenn du richtig singst, sagt dein Körper Ja.“ Das Wunderbare an der Kunst ist für Julie Griffeth die Möglichkeit, sich immer weiter zu entwickeln. So sei der berühmte Pianist Arthur Rubinstein bis in seine 90er Jahre nicht müde geworden, neue Fingertechniken zu entwickeln.
Doch empfindet sie ihre Auftritte in Rathaussälen und in Provinztheatern nicht als Abstieg? Wie kann man das tun, ohne seine Würde zu verlieren? Woher nimmt sie die Motivation, sich dem auszusetzen? „Auch auf bescheidenen Bühnen musst du in barer Münze zahlen. Ich verwalte eine gottgegebene Stimme. Wenn du auf die Bühne trittst und ein Ereignis sein musst, weil dein Name der Name der Oper ist, musst du ein weißes Licht in dir haben. Ich kann das nicht beschreiben, aber es ist so. Du darfst dich nicht so wichtig nehmen. Durch dein Ego wird die Energie gekappt, die du brauchst, damit etwas gelingt.“ [3]
Der Lkw-Fahrer
„Ich bin Lkw-Fahrer. Nichts anderes.“ Das sagt Markus Studer manchmal fröhlich und manchmal ein bisschen verärgert, als sei es etwas Unanständiges, Lkw zu fahren. Wenn das Transportgewerbe stehen würde, stockte die ganze Wirtschaft. Es kränke seine Trucker-Ehre, wenn er daran denke, wie schlecht manche Menschen über Lkw-Fahrer reden. Er genieße den Blick durch die große Panoramascheibe seiner 460 PS starken Mercedes-Zugmaschine auf die im Minutentakt vorbeiziehenden Täler, Brücken, Weinberge, die schöne Landschaft, die sich bei jedem Wetter anders entfaltet. Einen guten
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