Meine letzte Stunde
Sinn im Augenblick zu finden, zu sehen: Mitgefühl für einen anderen, Schönheit der Natur, etwas mit Freude tun, Jüngeren etwas beibringen, etwas für Schwächere tun. Besondere Augenblicke sind gerade deshalb so kostbar, weil wir sie nicht festhalten, auch nicht wiederholen können. Offen für diesen besonderen Augenblick zu sein heißt nicht, keine Pläne für die Zukunft zu haben, keine großen Träume für unser Leben, kein Herzklopfen vor dem ersten Rendezvous mit einem möglichen Liebespartner. Und es liegt auch nichts Verwerfliches darin, gelegentlich im reichen Schatz der schönen Erinnerungen unserer Vergangenheit zu schweifen. Ja, das Leben findet nur im Jetzt statt. Aber trotzdem hat jeder von uns eine Vergangenheit, die wir weder abstreifen können noch sollen, denn sie ist ein untrennbarer Bestandteil unserer Persönlichkeit. Und jeder hat eine ungewisse Zukunft vor sich, auf die Einfluss zu nehmen wir uns von niemandem ausreden lassen sollten, weil darin der Reiz des Lebens liegt. Die Weisheit des Mottos „Carpe diem“, „Nutze den Tag“ oder „Pflücke den Tag“, liegt darin, die Kürze des Lebens zu erkennen und keine Zeit zu vergeuden, vor allem Dinge, die wir heute tun können, nicht auf morgen zu verschieben, weil wir nie sicher wissen können, ob es überhaupt ein Morgen geben wird. „Carpe diem“ richtig verstanden ist aber keine Aufforderung zum hemmungslosen Hedonismus, weil dieser auf Dauer immer unbefriedigend ist. Stets ist es die Ausgewogenheit und nicht die Einseitigkeit, die in Summe ein erfülltes Leben ergibt.
Julian Baggini [4] untersucht in seinem sehr klugen Buch „Der Sinn des Lebens“ viele der scheinbar einleuchtenden und durchaus vielversprechenden Lebensphilosophien: Leben im Vertrauen darauf, dass wir im Himmel für unsere guten Taten belohnt werden, Leben, um große Ziele zu erreichen, Leben, um anderen Menschen zu helfen, Leben, um glücklich zu werden, Leben, um den Augenblick zu genießen, Leben, um sich von seinem Ego zu lösen und sein wahres Selbst zu entdecken. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass jede eindimensionale oder gar dogmatische Lebensweise nicht der Natur des Menschen entspricht und höchstens für eine ganz kleine Minderheit als Lebenskonzept tauglich ist. Es gibt keine Blaupause, die für jedes Leben taugt. Jedes menschliche Leben selbst ist die Quelle und der Maßstab seines Wertes. Wir alle haben die Möglichkeit, den Sinn des Lebens für uns zu entdecken, und können versuchen, unser Leben danach auszurichten. Ob man das Leben als ewigen Kampf oder spannendes Spiel interpretiert, liegt wohl an der eigenen Persönlichkeit.
Wir können erkennen, dass Glück wertvoll, aber nie von Dauer ist. Das macht es uns leichter, jene Phasen zu ertragen, in denen es sich uns entzogen hat. Wir können lernen, die Vergnügungen des Lebens auszukosten, ohne uns von unseren Gelüsten und Trieben versklaven zu lassen, weil sich diese nie völlig befriedigen lassen. So kam der Philosoph John Stuart Mill zu folgender Erkenntnis: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein.“ Wir werden uns über äußere Erfolge im Beruf oder Privatleben freuen und unser Selbstwertgefühl daran aufbauen können, um die Zeiten, in denen es nicht so gut läuft, besser durchstehen zu können. Wir werden unsere Fähigkeit trainieren, uns immer wieder ganz auf unser Leben im Jetzt einzulassen, und besondere Augenblicke dankbar annehmen, ohne daraus eine zwanghafte Ideologie zu machen. Wir werden uns daran freuen, im Leben immer wieder großzügig zu geben, ohne uns von einem vermeintlich selbstlosen Altruismus auffressen zu lassen. Wir werden den Sinn unseres Tuns immer wieder hinterfragen, aber manchmal auch einfach das erledigen, was ansteht oder von uns verlangt wird. Und wenn wir kurzzeitig völlig die Orientierung verlieren und in Gefahr geraten, von unseren so unterschiedlichen Gefühlen, Gedanken, kurzfristigen Gelüsten und langfristigen Zielen völlig zerrissen zu werden, können wir der stärksten Kraft in uns vertrauen und ihr die Kontrolle überlassen: der Liebe.
Zwei Antworten können wir finden, wenn wir am Sinn des Weiterlebens zweifeln, lehrt uns Viktor E. Frankl: „Jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die jeden einzelnen Menschen auszeichnet und jedem einzelnen Dasein erst Sinn verleiht, kommt also sowohl in Bezug auf sein Werk oder eine schöpferische Leistung zur Geltung, als auch in Bezug auf einen anderen Menschen
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