Meine letzte Stunde
großartig es doch wäre, ganz ein anderer zu sein, über all jene Vorzüge zu verfügen, an denen es uns mangelt. Um wie vieles leichter unser Leben sein könnte, wenn wir ein bisschen attraktiver, schlanker, klüger, kreativer oder konsequenter wären. Und in unserer Fantasie können wir uns das alles ausmalen. Dieser starke Drang, ein anderer zu sein, ist weder auf Kinder noch auf bestimmte unglückliche Persönlichkeitstypen beschränkt. Er steckt in uns allen, bei manchen ist er stärker ausgeprägt als bei anderen.
Dem gegenüber steht unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, mit deren Hilfe wir immer wieder erfahren, dass es eben keinen Weg aus uns heraus in etwas anderes hinein gibt. Der einzige Weg, auf den wir immer wieder zurückkommen, auch wenn wir Abkürzungen suchen und uns dabei verirren, ist der langsame Weg, unser Wesen zu erkennen und ihm treu zu bleiben. Dieser Weg erlaubt uns, Frieden mit uns selbst zu schließen und uns anzunehmen, wie wir sind. Das heißt nicht, dass nicht jeder Mensch ein Recht darauf hat, die Sterne zu sehen, nach ihnen zu greifen und zu versuchen, ihnen näher zu kommen. Es ist nur selten die radikale Veränderung des Lebenskonzepts, was die Qualität erhöht. Ich werde nie vergessen, als der Dalai Lama von einem vom tibetischen Buddhismus begeisterten Deutschen gefragt wurde, wie und wo er denn beginnen solle, diesen zu studieren. Der Dalai Lama blickte den Mann mit seinem unnachahmlichen Lächeln an und gab ihm einen Rat, dessen große Weisheit der junge Mann hoffentlich erkannt hat: „Bleiben Sie bei Ihrer Religion.“
Bleiben Sie in Ihrer Haut und versuchen Sie darin ein glücklicherer Mensch zu werden und glauben Sie nicht, dass ein anderer Weg für Sie einfacher ist, war wohl die Botschaft des Dalai Lama an den jungen Sinnsuchenden. Wir Menschen haben sehr unterschiedliche Wege zu gehen. Der Dalai Lama ging für alle sichtbar einen besonders langen Weg vom Bauernkind einer abgelegenen chinesischen Provinz auf den Thron im Potala-Palast in Lhasa und dann weiter als Vertriebener ins Exil nach Dharamshala. In der Luftlinie gemessen ist das keine besonders große Distanz, aber der unsichtbare Weg, den er dabei bewältigen musste, ist fast nicht vorstellbar. Sicher gibt es einige ganz wenige Menschen im Westen, die mit einem sehr ausgeprägten Willen, großer Disziplin und besonders markanten Persönlichkeitsmerkmalen in der Lage sind, jahrelang täglich mehrere Stunden zu meditieren und in einer Religion ihr Glück zu finden, die in einer völlig anderen Kultur für ein Volk, das auf 4000 bis 5000 Meter Höhe um sein tägliches Überleben gekämpft hat, entstanden ist. Ich habe nur einen einzigen Menschen aus dem Westen persönlich kennengelernt, der diesen Weg konsequent gegangen ist: Tenzin Palmo. Nach einigen Jahren spiritueller Praxis zog sich die geborene Engländerin in die Einsamkeit einer kleinen Höhle auf 4000 Meter Höhe im Himalaya zurück und verbrachte dort meditierend zwölf Jahre ihres Lebens. In dieser Zeit sah sie kaum einen Menschen und versorgte sich größtenteils selbst. Tenzin beschreibt diese zwölf Jahre als die lehrreichste Zeit ihres Lebens. Obwohl sie ganz allein in der Höhle lebte, war sie nie einsam, denn in ihrer Vorstellung praktizierten immer Buddhas und Bodhisattvas mit ihr. „Manchmal ist es etwas eng geworden in dieser kleinen Höhle“, erzählte Tenzin Palmo. Könnten Sie auch nur einen Monat in so einer kleinen eiskalten Höhle aushalten? Ziemlich sicher nicht, das ist auch nicht Ihr Weg. Das Licht, das Tenzin sehen kann, können nur wenige sehen. Dazu braucht man eine Haut, die nicht unsere ist und die man sich auch nicht einfach überstülpen kann. Der lange unsichtbare Weg, den jeder von uns zu bewältigen hat, ist fordernd genug.
Es braucht nicht das große „Damaskus-Erlebnis“ der totalen Umkehr oder die helle Erleuchtung, um seinen Weg zu erkennen. Sein Leben lang darauf zu warten, bringt wenig. Bei den meisten Menschen, die ihr Leben radikal verändert haben, waren Scheidungen, Krankheit oder Jobverlust dafür verantwortlich und nicht eine bewusste Entscheidung. Nicht alle diese Persönlichkeitsveränderungen wurden von Außenstehenden als positiv empfunden. Da gab es den Fall des Vaters von drei Kindern, der diese und ihre Mutter verließ, um noch etwas von seinem Leben zu haben, um dann als Erstes zu einer Frau mit ebenfalls drei Kindern zu ziehen. Er ist auch von dort sehr schnell wieder ausgezogen. Seine älteste
Weitere Kostenlose Bücher