Meine letzte Stunde
ich mich dabei verloren habe, mir meine letzte Stunde vorzustellen. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, die größte Falle jedenfalls bei Dir zu vermeiden, nämlich zu versuchen, Dir Deine letzte Stunde beschreiben zu wollen. Ich bin dazu außerstande. Ich kann sie nicht für Dich schreiben, ich kann sie nicht für Dich spüren, ich kann sie Dir nicht ausmalen. Ich kann Dir nur die Türe zu dem Raum aufhalten, in dem Du ihr ganz allein begegnen kannst.
Deine letzte Stunde. Um überhaupt weitergehen zu können, bitte ich Dich, dass wir uns nur eine einzige Spielregel ausmachen, die so lange gilt, bis dieses letzte Kapitel zu Ende ist: Legen wir unsere Verteidigungswaffen ab. Jeder hat diese Waffen, um Verletzungen und tiefe Erfahrungen abwehren zu können. Meine stärkste Waffe ist mein Trickreichtum, anderen und mir selbst vorzutäuschen, dass ich mich auf eine Erfahrung eingelassen habe, obwohl ich sie nie zugelassen habe, sondern genau dann, bevor mich das unbekannte Neue erfassen könnte, schnell ins Denken oder Philosophieren zu flüchten. Konkret heißt das, ich könnte Dir in schillernden Farben den Raum meiner letzten Stunde beschreiben, ohne je drinnen gewesen zu sein. Genau dieses ständige Ausweichen hat dazu geführt, dass ich mich lange immer weiter von mir selbst und meinen echten Sehnsüchten entfernt habe. Das geht nicht nur mir so, ich bin eben ein Schwerbewaffneter, aber dieser Mechanismus ist ganz tief in uns allen drinnen. Das Paradoxon ist: Je mehr Waffen wir anhäufen, um uns vor Verletzungen und neuen Erfahrungen zu schützen, umso verletzter und enttäuschter werden wir, weil wir uns selbst das verweigern, nach dem wir uns am meisten sehnen. Bei jeder Begegnung mit unserer letzten Stunde sind diese Waffen daher nicht nur sinnlos, sie können sich sogar gegen uns richten.
Bei mir geht es darum, das Waisenkind zuzulassen, das ich mein Leben lang verdrängt habe. Mit Waisenkind meine ich nicht, dass ich keine Eltern hatte, sondern den Kern meines Wesens. Wenn ich alles, was ich im Lauf meines Lebens um mich angehäuft habe, weglasse und auch die Maske des eloquenten Intellektuellen mit einem Hauch von Spiritualität ablege, sehe ich vor mir einen schüchternen kleinen Jungen, der sich vor Ablehnung fürchtet und ins Tun flüchtet. Wie ein kleiner Vogel, der zu früh aus dem Nest gefallen ist und sich selbst um sein Futter kümmern muss, obwohl seine Flügel noch viel zu klein sind.
Wenn Du mich jetzt für jemanden hältst, der mit einem mehr oder minder starken Drang ausgestattet ist, sein Innerstes vor der Welt auszubreiten, liegst Du völlig falsch. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begonnen habe, konnte ich mir nicht einmal vorstellen, dass ich mich in so eine Nähe mit einem anderen, mir unbekannten Menschen, nämlich mit Dir, vorwagen werde. Es hat unendlich lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass das größte Geschenk, das ich jemandem machen kann, ist, ihn daran teilhaben zu lassen, was in mir vorgeht. Das kann dann natürlich die Reaktion hervorrufen, dass ihn das nicht interessiert, dass er das ablehnt oder sich auch lustig darüber macht. Aber genau das ist meine Herausforderung, mich auf etwas einlassen zu können und nicht vorher auszuweichen. Das Schönste, was ich bisher aus den Begegnungen mit meiner letzten Stunde gelernt habe, ist, dass meine Verletzlichkeit, die ich so lange trickreich verborgen habe, meine größte Stärke und meine scheinbare Souveränität und Unangreifbarkeit meine größte Schwäche ist. Ich gewinne umso mehr bei anderen Menschen, je mehr ich ihnen auch diese andere Seite von mir zeigen kann.
Bei mir ist die andere Seite das Waisenkind. Ich weiß nicht, was Dein Punkt ist und ob Du ihn schon kennst. Wenn für mich das Zeigen meiner Verletzlichkeit meine größte Stärke ist, kann das für Dich genau umgekehrt sein. Es gibt zum Beispiel Menschen, die ständig in ihrer Verletzlichkeit verhaftet sind und sich darin eingraben. Sie brauchen vor allem die Kraft, nach außen zu gehen, ins Tun, um in Bewegung zu kommen. Andere sind sehr achtsam im Augenblick, sie irren aber ohne Orientierung durchs Leben. Vielleicht gehörst Du zu jenen, denen es schwerfällt, Nein zu sagen und Entscheidungen zu treffen, ohne sie am nächsten Tag wieder umzuwerfen. Es gibt auch solche, die sehr geschickt darin sind, sich für alles, was in ihrem Leben passiert, eine Entschuldigung zu basteln, auch wenn sie auf einer kleinen Lüge basiert, einfach weil das so bequem ist.
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