Meine letzte Stunde
vermitteln.
Es gibt noch ein letztes Kapitel, das „Der Besuch Deiner letzten Stunde“ heißt. Es ist in Du-Form geschrieben, weil man bei einer schwierigen Expedition mit seinem Begleiter nicht per Sie sein kann. Und es wird eine Schwelle überschreiten. Ich möchte Ihnen anbieten, mit mir noch diesen einen Schritt weiterzugehen, aber nur, wenn Sie das möchten. Es ist fast immer eine eigenartige Situation, wenn uns ein nicht wirklich Nahestehender plötzlich das Du-Wort anbietet und uns einlädt, ihm an einen unbekannten Ort zu folgen. Ich versuche gerade darüber nachzudenken, wie es Ihnen jetzt gehen könnte. Manchen fällt es sogar leichter, sich einem Fremden zu öffnen, wenn sie sicher sein können, ihm nie wieder zu begegnen. Andere fühlen sich unangenehm berührt, wenn ihnen jemand zu nahe treten will. Daher ist es jetzt ein großer Vorteil, dass wir uns nicht kennen. Wenn Ihnen mein Angebot unangenehm ist, endet das Buch an dieser Stelle und wir können es versöhnlich für uns beide ausklingen lassen. Wenn wir einander in irgendeiner Form einmal begegnen sollten, dann werden es die Gedanken in diesem Buch sein.
[1]
David Steindl-Rast: Musik der Stille. Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens, Freiburg im Breisgau 2008, S. 132
III.
Ein Besuch Deiner letzten Stunde
Man kann fast ein ganzes Buch über seine letzte Stunde schreiben, ohne ihr selbst zu begegnen. Aber eben nur fast. Man kann diese Begegnung mit seiner letzten Stunde immer wieder vor sich herschieben, weil man sich einredet, diese werde schon im richtigen Kapitel ihren Platz finden, so lange, bis man im letzten Kapitel angekommen ist – ein Jahr, nachdem man begonnen hat. Und dieses Jahr ist sehr schnell vergangen. In Wirklichkeit hatte ich alles getan, um meiner eigenen letzten Stunde ja nicht näher zu kommen. Ich habe die letzte Stunde überall gesucht, nur nicht in mir selbst. Man kann täglich am Morgen in den Spiegel schauen, ohne sich darin zu sehen. Irgendwann erkannte ich mich dann das erste Mal im Spiegel. Ich war genau an dem Punkt angekommen, an dem ich mir eingestehen musste, dass ich mit meiner ständigen Angst, mit diesem Buch zu scheitern, nur die viel größere Angst, mich ehrlich mit meiner eigenen letzten Stunde auseinanderzusetzen, übertünchte. All das sah ich auf einmal im Spiegel, so wie ein Maler, der, wenn er jemanden porträtiert, ohne es zu wollen, auch ein wenig seines eigenen Gesichts in das Bild hineinmalt. Und je genauer ich hineinschaute, umso stärker merkte ich, wie sehr mich die Arbeit an diesem Thema doch verändert hatte.
Wenn Du glaubst, dass ich meine letzte Stunde auch nur annähernd bewältigt habe, liegst Du vollkommen falsch. Genau das hilft mir jetzt, mit Dir diesen Weg zu gehen. Ein Blinder ist der beste Führer in der totalen Dunkelheit. Ich habe viele der Ausweichmanöver durchgemacht, die jetzt auf Dich zukommen könnten: das Weglegen des Buches, das Pausemachen und Sich-Ablenken, das Eine-rauchen-Gehen, das In-ganz-andere-Gedanken-Flüchten, das E-Mail-Checken, das Anrufen eines Freundes oder das Andrehen des Fernsehers. Ich glaube auch den Grund dafür zu kennen: Warum soll man eine Erfahrung zulassen, die man doch eigentlich nicht machen will?
Man kann auch kein Buch über seine letzte Stunde lesen und meinen, sich dabei selbst auslassen zu können. Das verbindet uns jetzt in diesem letzten Kapitel. Denn auf diesen letzten Seiten geht es nicht darum, etwas zu erreichen, sondern nur um das Einlassen. Und das macht es so schwierig. Ich kann das sagen, weil ich ein Champion im Nicht-Einlassen bin. Bisher ging es in diesem Buch oft um dramatische Geschichten, Lebensweisheiten, berühmte Namen und kluge Zitate. Jetzt kommen wir zu der einzigen letzten Stunde, die Dich wirklich etwas angeht: Deiner eigenen.
Ich könnte auch verstehen, wenn Du Dir denkst: Was soll das Ganze? Du hast Dich während des Lesens im Stillen sehr intensiv mit Dir und Deiner letzten Stunde auseinandergesetzt und das für Dich Wichtige herausgenommen. Das hat bisher sehr gut funktioniert und warum sollst Du Dich jetzt auf einmal führen lassen? Ich bitte Dich nur, auch mich ein bisschen zu verstehen. Meine größte Angst, wenn wir diesen Raum Deiner letzten Stunde betreten werden, ist, Dich zu verlieren und nicht mehr zu finden. Es lauern viele Fallen, die genau dieses Sich-Verlieren verursachen könnten. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie viele Seiten dieses Buches ich weggeworfen habe, weil
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