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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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selbst beobachten. Da sind solche, die drängen alle anderen mit diesem „Um mein Gepäck eine Minute früher zu erhalten, gehe ich über Leichen“-Blick weg, und andere, die zuerst einmal schauen, ob es jemanden gibt, der zu alt oder zu klein ist, um selbst an sein Gepäck zu kommen. Das hat noch nichts damit zu tun, ob man ein guter oder schlechter Mensch ist. Ein skrupelloser Finanzbetrüger kann der netteste Passagier sein, der einer Mutter mit Kindern hilft, an ihr Gepäck zu gelangen, und ein an sich höflicher Mensch kann zum Drängler werden, weil er Angst hat, seine Anschlussmaschine zu versäumen, die ihn zur kranken Ehefrau bringt.
    Sie haben sicher schon erkannt, dass die Botschaft nicht lauten darf: Die rücksichtsvollen Türaufhalter werden alle in den Himmel kommen und die drängelnden Vor-der-Nase-die-Tür-Zuknaller werden in der ewigen Verdammnis landen, sondern dass es darum geht, immer wieder diese Wahlmöglichkeit für sich selbst zu erkennen, auch unter größtem Stress. Manchmal wird einem auffallen, wie gut man sich fühlt, wenn man immer wieder ein freudiges „Danke“ aus dem Herzen eines Fremden erhält. Wenn Sie bei Ihrem nächsten Grüßen ein Lächeln dazugeben, könnte das dazu führen, dass das Lächeln, das Sie bei anderen so vermissen, wiederkehrt.
    Die Verhaltensforschung bei Tieren zeigt, dass man natürlich auch einer Maus oder einem Hund das „richtige“ Verhalten bei Licht und Dunkel antrainieren könnte. Bei Dunkel gibt es einen kleinen Stromstoß und bei Licht Futter. Der Mensch hat aber die Fähigkeit, den Unterschied zwischen Licht und Dunkel zu erkennen und aus sich heraus eine Entscheidung zu treffen, und nicht, weil er Zucker oder Peitsche dafür ernten wird. Wenn man nur mit der Brille „Was hilft mir?“ und „Was schadet mir?“ durch die Welt geht, kann man vieles nicht sehen. Das „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ oder „Es zählt das, was Du dem geringsten meiner Brüder getan hast“ ist mit dieser Brille nicht sichtbar. Licht und Finsternis bedeutet nur, den Unterschied sehen zu können und sich seiner eigenen Wahlmöglichkeit bewusst zu sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
    Am 1. Dezember 1955 weigerte sich eine schwarze Frau in Montgomery, Alabama, in einem Bus von ihrem Platz aufzustehen. Sie verstieß damit gegen ein Gesetz, das von ihr verlangt hätte, für einen weißen Fahrgast aufzustehen, der gerade neu zugestiegen war. Als der Busfahrer das bemerkte, befahl er den vier schwarzen Fahrgästen, die in der ersten Reihe der Sektion „für Farbige“ saßen, nach hinten zu gehen, denn schwarzen Fahrgästen war es verboten, sich neben weiße zu setzen. Sie durften auch nicht die Plätze auf der anderen Seite des Ganges einnehmen, solange ein Weißer in der Reihe saß. Damit der Weiße sich hinsetzen könnte, sollten auch an diesem 1. Dezember die vier Schwarzen die Reihe verlassen. Als der Busfahrer mit der Polizei drohte, standen drei von ihnen widerwillig auf und gingen nach hinten. Rosa Parks, die schwarze Frau, rutschte lediglich einen Sitz weiter zum Fenster.
    Der Busfahrer fragte nochmals, ob sie nicht aufstehen wolle. Rosa Parks antwortete mit ruhiger Stimme: „Nein.“ Dieses Nein erfasste bald Millionen und änderte den Lauf der Geschichte. Es war der Beginn der großen Bürgerrechtsbewegung in den USA.
    Nicht jedes „Nein“, das wir sagen, ist bedeutsam, aber ein einziges „Nein“, das wir zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Angelegenheit aussprechen, kann unser Leben und das von anderen verändern. Hinter dem „Nein“ von Rosa Parks stand der Gedanke, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe gleich an Rechten sind. Ich habe diese Geschichte an dieser Stelle erzählt, um zu zeigen, wie mächtig ein einziger Gedanke viele Jahre nach einem Ereignis noch heute sein kann. Es ist nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das von anderen, das wir mit jeder unserer Entscheidungen verändern können.
    Die Annäherung an uns selbst
    Die wenigsten werden als Genies oder als Schwerstbehinderte geboren, gar nicht so wenige als Hungernde in Afrika oder als Kinder chinesischer Wanderarbeiter. Unsere Haut, in der wir geboren werden, können wir uns nicht aussuchen, wir können sie auch nie ganz abstreifen. Das sagt sich viel leichter, als es zu akzeptieren ist. Zu groß sind die Verführungen, die uns anderes einreden wollen. Dann werden wir von einer gewaltigen Macht erfasst, die uns davon träumen lässt, wie

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