Meine Mutter, die Gräfin
Überlebensstrategie besteht darin, zwei »Schuldige« auszumachen. Zum einen wären da die perversen Kinder:
»Man könnte bestimmt Berge von Büchern mit den perversen Hirngespinsten dieser Kinder füllen, die der Ehrgeiz gepackt zu haben scheint, in ihren Schilderungen sich noch gegenseitig zu übertreffen. […]
Es leuchtet einem nicht ein, welche Dinge sich Kinder von 10, 12 Jahren ausmalen können und wie schamlos
sie lügen können. Dass sie kein besonders gutes Gedächtnis zu haben scheinen und sich viele Male selbst so widersprochen haben, dass nicht einmal mehr der Richter noch schlau daraus wurde, ist an sich schon bemerkenswert.«
Zum anderen der starke Fremdenhass, dem sie ausgesetzt sind – »das ist nur, weil wir Deutsche sind, weil Vati Deutscher ist«. Aber gleichzeitig geht aus ihren Briefen hervor, dass es in Wirklichkeit die deutsche Minorität in Radautz, und hier vor allem der deutsch-evangelische Pastor ist, der – Emilie zufolge – hinter allem steckt: »Die Zeugenaussagen der Kinder sind dermaßen widersprüchlich, dass die Spekulationen nur so angeheizt werden, und ich glaube, dass unser ach so ehrenwerter Herr Pastor hinter diesen Spekulationen steckt. Eine feine Rolle hat er sich da ausgesucht!«
Die deutschen Herren in Radautz stünden alle unter seiner Fuchtel, wie sie später (im April 1932) zu Papier bringt. Und sie nennt ihn beim Namen, den »feinen Herrn Prodner«, der für das ganze Elend verantwortlich sei. In der Stadt gäbe es nicht einen Funken kulturellen Lebens mehr, alle Theater seien geschlossen worden.
Die Menschen würden zu bewährten Mitteln greifen – unter einem verborgenen Vorwand. Und die Deutschen der Stadt – ja, alle, die sich jetzt zusammenrotteten, Ränke schmiedeten, ihr Gift versprühten –, ja, das sei nicht verwunderlich, dass es sich so verhielte! »Es ist nicht weiter erstaunlich, dass die deutsche Minderheit hier so unkultiviert, so unmenschlich ist! Seit 150 Jahren stranden sie hier, fast alles nur Entartete und Trunkenbolde, denen es nicht gelungen ist, sich in der Heimat ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, schreibt sie wütend.
Ihrem Verständnis nach sah es vermutlich so aus: Sie waren von diesen unkultivierten Deutschen angezeigt worden,
die unter dem Einfluss eines deutsch-evangelischen Priesters standen, der noch dazu dafür gesorgt hatte, dass das Kulturleben der Stadt verkümmert war – diese Verleumdungen hatten Fritz ins Zuchthaus gebracht, und dort, wie auch vor Gericht, war er dann Fremdenhass und Nationalismus ausgesetzt worden, sodass er kein gerechtes Urteil zu erwarten hatte. Und sie scheint nicht einen Augenblick an ihrem Fritzi gezweifelt zu haben, nicht einen Augenblick.
Was lässt sich jetzt also zusammen mit meinen vagen poetischen Andeutungen, aus den dunklen Ringen unter ihren Augen, ableiten; was hat es mit dem Zeugnis, das dieses Gedicht ablegt, auf sich: So bewegt auf und ab, ein dunkler Wille. Eine Wiege am Grab. Seid stille! Seid stille!
Aber sie hat ein paar wirklich gute Freunde – ich bin fast ein bisschen erleichtert. Darunter ist Niny, Ottos Ehemalige und Lotties gute Freundin, wenngleich Niny darum bittet, ausrichten zu lassen, dass sie nicht schreiben könne, weil sie nicht wisse, wie sie sich ausdrücken solle. Und dann sind da noch Madame de Rossigneou und Madame Decker und Frau Kolek. Weihnachten würden sie bei Madame Rossigneou, den ersten Weihnachtstag bei Madame Decker verbringen. Daheim hätten sie immerhin einen kleinen Weihnachtsbaum auf dem Tisch stehen, und sie werde an ihre Lottie, an ihren Otto denken – den sie fast beneide – und an Alexander.
Dafür lässt sie die französische Verwandtschaft im Stich: »Meine Verwandten aus der Schweiz, aus Frankreich und England [Schwester Charlotte] wollen mit ›einer Deutschen‹ nichts zu tun haben. C'est vraiment gentil! – wirklich sehr freundlich von Euch!«
Und Leni? Das teilt sie, die »Haustochter«, mit ihrer Mutter: schlaflose Nächte, wochenlange Sorgen, dass sie das Ziel von Spott und Hohn sind, dass ehemalige Freunde auf dem Absatz kehrtmachen, sowie sie sich nähern, die Sorge vor
der Zukunft, ja, was in aller Welt soll aus ihnen werden? »Aber nach Weihnachten ist sie mit ihren Wandervögeln weggefahren, und im Februar auch, und so langsam erholt sie sich«, wie Emilie schreibt und mir damit einen ganz neuen Eindruck von Leni vermittelt: »Leni ist wieder mit den Wandervögeln weggefahren. […] Mit ihrer Gitarre und ihrem
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