Meine Mutter, die Gräfin
ein junger Mensch von 25 Jahren, einen Nervenzusammenbruch bekommen hast? Wir malen uns natürlich, wie Du Dir gewiss denken kannst, deshalb alles Mögliche aus. Aus Deinen vorigen Briefen ließ sich schließlich nichts Derartiges entnehmen, weder dass Du Dich nicht wohl fühltest, noch dass irgendwelche ›Missstimmung‹ herrschte. Wenn Du Ärger haben solltest, schreib uns ruhig davon. Es kann gewiss nicht schaden, wenn Du Dir – und uns gegenüber – von Fall zu Fall ein bisschen Luft verschaffst. Natürlich können wir Dir, wenigstens momentan, nicht sonderlich helfen, aber eine Aussprache tut immer gut und schenkt Klarheit. Hoffentlich klingt Dein nächster Brief wieder etwas tröstlicher.«
Ach nein, Fritz, denke ich. Du kannst dir also nicht vorstellen, dass es etwas geben könnte, was sie bedrückt? Etwas, das wegen des Elends, das du angerichtet hast, aus den finstersten Winkeln des Unterbewusstseins an die Oberfläche gekommen ist?
Doch nein, das ist ganz und gar nicht der Grund, ganz und gar nicht:
»Die Hauptursache dafür war, dass ich einen Entschluss fassen musste, der mir furchtbar schwergefallen ist. Alexander und ich haben beschlossen, uns zu trennen. Unser Verhältnis ist zwar sehr gut – wir sind die besten Freunde und Kameraden –, aber das reicht nicht. Wir beide haben jemand anderen kennengelernt, mit dem wir zusammenleben wollen.«
Lag es an der Erlaubnis ihres Vaters »sich Luft zu verschaffen«, oder hatte sie schlicht und einfach das Bedürfnis, endlich zu schreiben, wie die Dinge lagen? Wie auch immer – nach ihrer Erholungspause sitzt sie nun in ihrer neuen Wohnung in Grunewald (Friedrichsruher Straße 34, bei Pochamer) und schreibt und schreibt und schreibt. Schon im vorigen Herbst hätte sie über sich und Alexander nachgedacht, sich jedoch entschieden, ihnen noch eine zweite Chance zu geben. »Ich meine – wir kennen uns ja schon seit fünf Jahren und haben so viel miteinander geteilt.« Aber. So sei es nun mal. Dass sie einen anderen kennengelernt habe, eine Person, mit der sie zusammenleben wolle. Ja, Alexander habe auch eine andere gefunden.
Und diese »Person«, mit der sie zusammenleben will, ist Heinrich Kurella. »Mama, Du bist ihm schon begegnet, bevor er in Gollnow einsaß; und soweit ich mich erinnere, hattest Du etwas gegen ihn. Damals habe ich noch nichts davon geahnt – aber zu Ostern war die Sache klar. Er liebt mich schon lange und ich liebe ihn auch, und ich weiß, dass ich mit ihm glücklich werde. Du darfst nicht glauben« – und sie wendet sich ausschließlich an ihre Mutter –, »dass das nur eine vorübergehende Verliebtheit ist, wie so oft in den letzten Jahren. Ich stand ihm anfangs sehr misstrauisch gegenüber, bin jetzt aber wahnsinnig glücklich darüber, dass es ihn gibt – dass er mich liebt und dass ich überhaupt lieben kann.
Der Irrtum unserer Ehe war«, fährt sie fort, denn ihre Ge
danken springen zwischen Alexander und Heini hin und her, »dass ich nur meine Pflicht getan habe, aber nie ganz erfüllt davon war – weshalb ich mich auch an anderen Beziehungen ›schadlos gehalten‹ habe, was mir aber nie ganz gelungen ist. Ich habe nach mehr Zärtlichkeit und Alexander nach mehr Verständnis gesucht. Letzten Winter habe ich es noch einmal versucht, aber es war schon zu spät. Ihr könnt sicher verstehen, dass diese ganze Geschichte an mir gezehrt hat, sodass ich eines Tages völlig verzweifelt war.«
Und, frage ich die Schatten hinter meinem Rücken, könnte man sich nicht auch vorstellen, dass gerade diese Ereignisse in Radautz der Auslöser dafür waren, dass sie aufgewacht ist, erkannt hat, dass sie ein falsches Leben führte und wie wenig Unterstützung ihr durch Alexander zuteil wurde? Und da, ja da war der junge Kommunist Heini da – mit Trost, Liebe, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen.
Vielleicht ist er ja sofort gekommen, nachdem sie versucht hatte, Selbstmord zu begehen – war es diese Geschichte, die den entscheidenden Anstoß gab?
Denn dafür steht der »kleine Nervenzusammenbruch« – für einen Selbstmordversuch. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen.
Da sehe ich, wie sie sich in die Badewanne legt und sich die Pulsadern aufschneidet – war es nicht so? Sehe, wie sie so auf der Bettkante sitzt, betrunken von dem zarten Wodka, mitgenommen nach ihrer hunderttausendsten Zigarette, wie sie die Tabletten schluckt, an die sie gekommen ist – war ja nicht schwer? Wie sie sie finden – ihre Freunde, in der
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