Meine Mutter, die Gräfin
Humor reißt sie die Kinder mit, die sie anbeten.«
Fritz wurde an den Feiertagen nicht entlassen, und er kam auch im Januar noch nicht nach Hause, wie sie eine Zeit lang gedacht hatten. Stattdessen wurde am 18. Januar das Urteil verkündet:
»Papa ist zu vier Monaten Zuchthaus verurteilt worden, wovon er bereits 10 Wochen abgesessen hat. Er wird am 20. März entlassen. […] Wenn er tatsächlich schuldig gewesen wäre, wäre das eine lächerliche Strafe. Es reicht. Comme cela, elle suffit .«
Und so bleibt ihr – und Leni – nichts anderes übrig, als zweimal täglich Schleichwege übers Feld entlangzustapfen, um den Blicken der Leute zu entgehen, wenn sie dem armen Papa, der unschuldig und so tapfer im Gefängnis ausharrt, Essen bringen. Parallel dazu versucht Emilie, die Buchhandlung zu verkaufen und die Inventur zu erledigen. Der Winter ist eisig, Wölfe sind in der Gegend gesichtet worden, und die Inventur verläuft schleppend, weil es so unglaublich schwer ist, in dieser Kälte zu arbeiten. Zwölf Kilo verliert sie. »Ein bisschen zu viel für eine Frau in meinem Alter – une femme de mon âge .« Sie ist gerade erst neunundvierzig geworden.
Dass sie das Weite suchen müssen, war ihr sofort klar. Ihre Verbitterung ist grenzenlos, und doch murmelt sie von An
fang an das typisch Schledtsche Mantra: Es geht alles vorüber, tout passe , bald ist es vorbei. Spöttisch versucht sie das Elend in etwas anderes zu verkehren: »Papa wird in drei Wochen freigelassen, und dann wird diese Prüfung nur noch Geschichte sein. So kehrt in unserem Leben immerhin keine Langeweile ein – wovor ich als junge Frau doch solche Bedenken gehabt habe. Man soll das Schicksal nicht herausfordern!«
Emilie – »Sorgenmutter«.
Natürlich müssen sie gehen. Sie wollen auch gehen, wollen nicht hier bleiben. »Hier wollen wir nicht bleiben. Hier können wir nicht bleiben. Aber das Haus, das wunderbare Haus mit seinem Garten, seinen Rosen, dem Gemüse, den Obstbäumen – ach! Vielleicht, wenn die Geschäfte wieder etwas besser laufen?« Aber die Geschäfte laufen schlecht, grottenschlecht. »Die Angestellten haben noch immer nicht ihren Lohn für November erhalten«, schreibt sie im Februar. Sie verkauft einfach nichts: »Heute ist das jüdische Purimfest, und schreckliche Masken dominieren die Straßen. In nur zwei Stunden habe ich allein gegenüber von unserem Geschäft an die 35 Bettler gezählt.«
Sie lässt eine fast gereizte Unentschiedenheit spüren. Wo sollen sie hin? Wie sollen sie – soll sie – die Buchhandlung verkauft kriegen? Wie, wo, wann?
Und so schreibt der Herr Papa, schreibt seiner Lolotte auf gefängnisgrauem, miserablem Papier aus dem Zuchthaus dieses:
»Was ich, beziehungsweise wir drei, hier durchmachen mussten, ist furchtbar. Mama wird Dir ja alles Nähere schreiben. Aber auch diese Zeit wird vorübergehen. Wir werden dann danach trachten, so schnell wie möglich von hier fortzukommen, alles zu verkaufen und wenn irgend möglich in Deutschland unterzukommen versuchen. Der Vorschlag mit der Fichte-Gesellschaft wäre mir sehr sympathisch, da meine ganze Tätigkeit doch im weitesten Umfang volksbildend literarisch ist.«
Oder sonst etwas, fährt er fort, das mit Bibliothek, Buchausstellungen, redaktioneller Arbeit und Übersetzungen zu tun habe – » Kuss, meine Lolotte , und grüße mir Alex. Im Klartext: Hilf Deinem Vater, hör Dich um. Was sagt Thiess?«
Und dann wird er freigelassen, im März 1932. Bruchstücke aus ihren Briefen setzen sich zu einem traurigen Gedicht zusammen:
»Es schneit – schneit ohne Unterlass.
In wenigen Tagen ist Ostern, ein Ostern ohne Blumen,
ohne das kleinste bisschen Grün.
Der Schnee ist einen halben Meter hoch, ist halb
zu Schmutz, halb zu Eis gefroren.
Der Wind weht unablässig seit einer Woche schon.
Wenn sich mittags manchmal die Sonne zeigt,
wird es warm.
Den Rest der Zeit ist alles kalt; grau.
Er ist – äußerlich – älter geworden – sonst ist er
derselbe.«
Nervenzusammenbruch
Ein Brief von Charlotte an Emilie vom 13. April 1932 aus Neubabelsberg, im Umkreis von Berlin:
»Nach Ostern ging es mir sehr schlecht; ich hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch und mein Gewicht sank auf 94 Pfund. Daraufhin beschlossen Florence und das Büro, dass ich für eine Weile entspannen müsste.«
Daraufhin greift Lotties Vater zur Feder:
»Meine liebe Lottie!
Dein Brief hat uns große Sorgen gemacht. Was ist denn nur passiert, dass Du,
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