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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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gesellen.
     Papa hat seinen Mut noch nicht verloren. Ich darf ihn jeden Tag für eineinhalb Stunden besuchen und bringe ihm Essen und Bücher. Wenn meine Nerven mich nicht im Stich lassen, schaffen wir das irgendwie, aber ich habe gerade so ein nervöses Zittern, das sich einfach nicht beherrschen lässt.
     Es geht alles vorüber, sagt man! Aber diese Prüfung geht nur langsam vorüber. […] Wir, Leni und ich, schlafen und essen mittlerweile immerhin wieder etwas. Man gewöhnt sich irgendwie daran, ständig wachsam zu sein. […] Das werden schwere Tage sein, die wir durchmachen müssen, glaube aber, dass die schwärzesten mit dem Diens
tag, Mittwoch und Donnerstag der vorigen Woche hinter uns liegen.
      Je t'embrasse, ma chérie, bien fort .
     Deine Maman , die den Mut noch
nicht ganz verloren hat.«

    Wieso, weshalb, warum?, muss sie panisch zurücktelegrafiert haben. Warum ist Papa verhaftet worden? Was hat er getan? Und ihre Mutter antwortet:

    »Wir haben Schneewittchen gespielt. Ich wollte keine kleinen Mädchen dafür nehmen, weil sie sich verlogen und pervers benommen haben. Aber sie haben diese ganze Geschichte gegen Papa arrangiert. Papa soll sie ›defloriert‹ haben und so weiter, auf einem Bett im Geschäft etc., etc. Sie haben die Namen aller Kinder, die Theater spielen, angeführt. Aller!
     Heute war die eidesstattliche Zeugenaussage. Ich musste auch hin. Warum die Kinder fürs Theaterspielen hätten Nachthemden tragen müssen?! Ob ich etwa ein Bett ins Geschäft habe stellen lassen!! Ob Papa seine ehelichen Pflichten mir gegenüber erfülle?! Stell Dir bloß diese Unvernunft, diese Idiotie vor – und das an einem Ort, an dem man nicht mal die Außentür verriegeln kann, in einem Geschäft, wo die ganze Welt ein und aus spaziert, wo jeden Augenblick jemand hereinkommen und Papa, der ja ganz bestimmt taub ist, überraschen kann. Als ob es etwas gegeben hätte, bei dem man ihn hätte überraschen können!«

    Will sagen: Der Buchhändler aus Radautz war von einer Gertrude Frankl angeklagt worden, sich an ihren Mädchen Elfe und Engel vergriffen zu haben – ja, alle Kinder, die in Fritz' und Emilies Kindertheater mitgespielt hatten, hatten gar behauptet, von ihm angefasst worden zu sein.

    Leni (neben dem Engel) spielt Theater – mit den Frankl-Mädchen?
    »Du kannst Dir ja vorstellen, wie wir drei hier leiden«, fährt Emilie fort. »Am kommenden Dienstag ist es zwei Wochen her. Ich habe mich an die beiden besten Anwälte Radautz' gewandt, insbesondere an Dr. Nastasi. Die Stadt ist in zwei Lager gespalten. Aber«, so schreibt sie weiter, »allmählich wird sich die öffentliche Meinung schon noch zu unseren Gunsten wenden. Ja, da hast Du's – Du wolltest ja unbedingt, dass ich Dir alles erzähle. Ich hätte Dir das alles lieber erspart. Aber Papa und Leni meinten, dass ich es Dir sagen sollte.«

    Noch nicht einmal hierzu sind Briefe von Lottie erhalten geblieben. Obwohl sie sich die Finger wund geschrieben haben muss – Briefe zwischen der Bukowina und Berlin gingen eifrig hin und her.
    Es ist faszinierend, Emilie in diesem Winter zu folgen. In gewisser Weise könnte das Schreckliche, das ihnen widerfuhr, wie eine Schocktherapie gewirkt haben, ja, die Gedan
ken an Otto verdrängt haben. Obwohl – ich weiß nicht. Denn es kam immer schlimmer. Rechtsanwalt Nastasi hatte zwar zunächst erklärt, dass der Sache Erfolg beschieden sei, doch so kam es nicht. Die Gerüchteküche gärt, eine Hausuntersuchung wurde vorgenommen – »gestern habe ich das außerordentliche Vergnügen einer Hausdurchsuchung genossen«, schreibt sie am 3. Dezember mit beißender Ironie, und ein paar Tage vor Weihnachten stellt sich heraus, dass Freunde sie angezeigt haben:

    »Unsere engen Freunde – welche, weiß ich noch nicht – haben die Liebenswürdigkeit besessen, uns bei der Polizei anzuschwärzen. Es gab eine neue gerichtliche Untersuchung, die um ein Vielfaches schlimmer als die vorherige war. Alles wurde durchwühlt, im Keller des Kornspeichers wurde alles auf den Kopf gestellt. Ich habe den Ankläger nach dem Grund gefragt: ›Man hat sie angezeigt‹, das war alles.«

    »Aber Du weißt ja«, wie sie Lottie schreibt, »dass ich bei Gefahr keine Angst kenne.« Der Krieg habe sie wieder eingeholt, der Keller sei gut gefüllt. Sie werde die Lage bewältigen, wenn sie nur endlich aufhören würde, so entsetzlich zu zittern – »ist ja lächerlich, wie mich das beeinträchtigt hat!«
    Ihre

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