Meine Mutter, die Gräfin
der Künstlerkolonie, gab es tatsächlich eine Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus: sowohl bei den Mitgliedern der Zentrumspartei wie auch bei Sozialdemokraten, Kommunisten und Parteilosen. Die Häuser waren zwischen 1927 und 1930 für Schauspieler und Autoren errichtet worden. Sie lagen um den Ludwig-Barnay-Platz – bis 1963 Laubenheimer Platz, danach Ludwig-Barnay-Platz, nahe der U-Bahnstation Breitenbachplatz –, dem Schriftsteller Axel Eggebrecht zufolge, einem der Bewohner, »eine kleine Insel inmitten der Flut von Hakenkreuzen und Schwarz-Weiß-Rot«.
Hier wohnten »alle«: circa 300 Autoren, Schauspieler, Künstler, Sänger u.a. Arthur Koestler (seit Dezember 1931 Mitglied der KPD in Berlin, reist im Juli 1932 in die Sowjetunion), Wilhelm Reich, Alfred Kantorowicz, Ludwig Renn und, und, und – ich überfliege die Liste mit Bewohnern, die
ich im Internet gefunden habe, und frage mich, wen sie davon wohl gekannt hat: Reich? »Ach, stammen Sie auch aus der Bukowina?« Renn ganz bestimmt, da er mit der Inprekorr verbandelt war. Auch dass sie Ernst Bloch und seine Ehefrau Karola kannte, weiß ich mit Sicherheit. Ebenso war sie mit dem Schauspieler Hans Mayer-Hanno bekannt, mit dem sie auf dem Faschingsball 1931 flirtete. Und auch Beppo Römer, Alexanders Freund und Genosse im Fall Scheringer und im kommenden Widerstand, der den Aufbruch herausgab, kannte sie, und erst recht Erna, Emmy, Betty, Isolde, Inge, Hilde und Elke – die muss sie einfach gekannt haben. Wie auch andere Künstler, Schauspieler und Sängerinnen, die dort wohnten, oder so stinknormale Leute wie sie selbst: Menschen, die liebten.
Und man hatte ein wachsames Auge auf sie, war hier doch alles versammelt, was dem Nationalsozialismus zuwiderlief: Bildung, Talent, Humor, Kunst, Spontanität. Hier war beispielsweise die Truppe 31 – eine kommunistische Theatergruppe – zu Hause, der unter anderem Hans Mayer-Hanno, Steffie Spira und Lotte Jacobi angehörten und die Stücke wie Da liegt der Hund begraben , Mausefalle und Wer ist der Dümmste? gespielt hat.
Im Sommer 1932 wurde ein antifaschistischer Schutzbund gegründet, um den Einwohnern der roten Insel zu helfen, unbeschadet von der U-Bahn am Breitenbachplatz nach Hause zu gelangen. Und das war auch nötig. Am Freitag, den 20. Januar 1933 war Walter Zadek, Redakteur des Berliner Tageblatts , mit seiner Frau auf dem Weg nach Hause: »Ich höre, wie ein untersetzter Herr seiner Begleiterin zuruft: ›Schade, dass man dieses Judenzeug immer noch ausstellen darf!‹ Damit weist er auf den Zeitungsautomaten hin, in dem das Berliner Tageblatt steckt. Ich sagte daraufhin zu meiner Frau: ›Wollen wir mal das Judenzeug kaufen?‹«
Was er besser nicht getan hätte – misshandelt und windelweich geprügelt gelangten sie nach Hause; ein Ereignis, das schon andeutete, was folgen sollte. Am nächsten Tag fanden überall in der Stadt große Nazidemonstrationen statt. Von da an sollte es nur noch neun Tage dauern, bis Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde.
Ihr Brief vom 27. Januar 1933 an die Eltern, den sie zum ersten Mal mit ihrem vollen Namen Charlotte unterschreibt, so als sei nun endlich eine Erwachsene aus ihr geworden, ist eine Mischung aus Beteuerungen, wie »solide« ihr Leben geworden sei, und von Empören getragenen Beschreibungen der »Nazidemonstration vom Samstag« und der kommunistischen Gegendemonstration, die tatsächlich proklamiert wurde (mit verhängnisvollen Konsequenzen für die Befehlsgeber). Das solide Leben gerät zweifellos aus den Fugen, als sie schildert, dass sie und Heini vier Stunden lang auf den Beinen gewesen seien, um zu demonstrieren, und dass »es übel hätte ausgehen können, als die Demonstration aufgelöst wurde«, wie sie an ihre Eltern schreibt, die sich Sorgen machen: » Bunte Zeiten, ma chérie «, schrieb ihr Vater zurück, »entblöße Dich bitte nicht, das ist es nun wirklich nicht wert. Es kommt, was kommen muss. Der Einzelne kann nichts bewegen, wenn die Sache sich nicht von selbst trägt«, und Emilie pflichtete ihm bei – »Bitte, sei vorsichtig! Demonstrationen führen zu nichts und enden nur mit Enttäuschungen. Und«, fährt sie fort – und ihre alte Verehrung all dessen, was deutsch ist, ist jetzt, da sie ihr dürftiges Leben in Leipzig lebt, wie weggeblasen: » C'est tellement allemand, c'est tellement militaire, c'est tellement enfantin – das ist dermaßen deutsch, dermaßen militärisch, dermaßen infantil – und bei dem jetzigen
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