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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Goebbels diskutieren Streikstrategien! Was Grete und Heinrich wohl davon gehalten haben? Und Charlotte? Im Dezember 1932 hatte sie sich auch zu den Auserwählten gesellt, da wurde sie endlich KPD -Mitglied und der Zelle am Breitenbachplatz zugeteilt – wo Heinrich Polleiter war.
    Womöglich hatte die Neuwahl im November 1932 sie in falscher Sicherheit gewogen. Endlich wurde die Erfolgskurve der Nazis beschnitten: Sie sank von 37,3 auf 33,1 Prozent. Und die Freude war umso größer, als das den Kommunisten einen Zugewinn von 14,3 auf ganze 16,9 Prozent bescherte.
Die SPD hingegen fiel von 21,6 auf 20,4 Prozent, war aber immer noch die zweitgrößte Partei. In Berlin zeichnete sich der Trend noch deutlicher ab – dort wurden die Kommunisten die stärkste Partei und bekamen satte 37,7 Prozent.
    Vielleicht war das Schlimmste ja vorüber? Das war doch sicher der Anfang vom Umschwung? Es gab wieder eine Zukunft, und wie es eine Zukunft gab! Jetzt würde alles besser werden. In der großen, weiten Welt und in der kleinen Welt.
    Der Traum vom Heim
    Dieser kurze Moment Alltag, der ihnen beschieden ist, bevor alles anfängt. Er ist nach Hause gekommen, endlich ist ihr Heini wieder bei ihr, und endlich hat die liebe Seele Ruh, die sich fragte: Woran liegt das nur, was ich auch tue, immer gehen sie weg, zuerst Alexander und jetzt Heini, und lassen mich allein – »ist es da etwa erstaunlich«, schreibt sie Leni, »dass ich ›etliche Dummheiten‹ anstelle?« Aber jetzt ist er da, und endlich fühlt sie sich bestätigt, dass es wahr ist. Sie lieben sich, aber, hu, wie mager und elend er aussieht – und so ganz kann sie seine Ankunft auch nicht genießen, kamen sie an jenem Sonntag im September 1932 doch beide zu ihr: er und Alexander. Und beide erheben Anspruch auf ihre Liebe, und noch ist sie schließlich Gräfin Stenbock, und ja, was soll denn bloß ihre Vermieterin Frau Pochamer sagen – also muss Heini zunächst bei Freunden wohnen. Aber bald, ganz bald werden sie eine eigene Wohnung haben – und bis dahin wird sie mit Heini zu seiner Schwester Tania ziehen. Freunde waren sie jedoch nach wie vor: »Heini und Alexander lassen Euch aufs Herzlichste grüßen«, schreibt sie ihrer geliebten Mama im September, als sie sich für die vielen Geburtstagsgeschenke bedankt, die sie bekommen hat, ist sie doch gerade sechsundzwanzig geworden.
    Im November wird ein kleiner Haushalt zu dritt daraus – Charlotte, Heinrich und Tania unter einem Dach – »und
Heini ist ein bisschen zu Kräften gekommen, aber er erhält nicht den ihm zugesagten Urlaub, und so nett das auch mit Tania ist, so ist sie doch nicht imstande, Essen zu kochen! Also, meine liebe Mama«, schreibt sie Emilie nach Leipzig, an Emilie, die im Herbst ein paar Wochen bei ihr gewohnt hat, bevor die vielen Männer kamen – und es sollte das vorletzte Mal sein, dass sie sich sehen – »nenn' mir doch ein paar Rezepte für leicht zuzubereitende und preiswerte Gerichte! Und schick mir bitte den Samovar. Und Bücher! Japanische Dramen, Eulenspiegel, Alice im Wunderland – und Papa – kannst Du mir die gesammelten Werke Conrads auf Englisch schicken; ja, ich möchte sie Heini zu Weihnachten schenken, und Morgensterns Galgenlieder .« Und Papa schickt Bücher (»Ich bezahle sie Euch nach Weihnachten! Versprochen!«) und Emilie, ja Emilie schickt ihrer ältesten Tochter Rezepte und noch dazu ein kleines ironisches Gedicht von Victor Hugo, Le doigt de la femme (Der Finger der Frau):
    »Gott nahm seinen weichsten Lehm
    Und seine reinste Porzellanerde
    Und formte ein zartes Juwel
    Geheimnisvoll und anschmiegsam
    Er formte den Finger der Frau
    Zu einem erhabenen und liebreizenden Meisterwerk
    Dieser Finger, gemacht, um die Seele zu berühren
    Und auf das Himmelszelt zu zeigen«

    Es folgen noch zwölf weitere Verse …
    Und mit diesem Meisterwerk – ihren magischen Fingern – wird sie Makkaroni mit Tomaten, Käse und Gewürzen kochen; irgendein Reis- und Fleischgericht, für das Kalbs- oder Schweinefleisch in kleine Stücke geschnitten und mit Margarine und Zwiebeln angebraten wird, bis man – wenn das Fleisch mürbe ist – gekochten Reis daruntermischt; Kalb-
oder Schweineherz mit Zwiebeln und Zitrone und einer Prise Zucker – und nicht zuletzt Trockenobst, aus dem man Nachspeisen machen kann. Voilà, presqu'un livre de cuisine. Und Emilie hat für das junge Paar aus Frauenzeitschriften Rezepte für schnell zuzubereitende Gerichte fürs Weihnachtsessen ausgeschnitten:

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