Meine Mutter, die Gräfin
Graupensuppe, gefülltes Kalbsschnitzel mit gekochtem Blumenkohl, Apfelkompott und für den zweiten Weihnachtsfeiertag Petersiliensuppe mit Käsepasteten und panierten Bananen.
Und Charlotte nimmt von ihren Freundinnen Nina und Mary Handabdrücke auf Papier und schickt sie Emilie, diese soll anhand ihres Buches L'énigme de la main (Das Rätsel der Hand) eine Einschätzung geben. Es scheint Emilies Religion zu sein: das Handlesen. Es geschieht, was geschieht, und alles geht vorüber, aber es ist einem ja trotzdem erlaubt, kurz vorzublättern und einen Blick auf das Ende zu werfen, »und Nina hat interessante Linien, die an meine erinnern«, schreibt Emilie, »sie sollte sich an der Schriftstellerei versuchen, sie hätte Talent dafür.« Und Mary sei fast genauso sensibel und ihr sei eine unglaubliche Vitalität zu eigen – »aber ich brauche dafür auch ihre linken Hände und es wird ein Weilchen dauern, ihre Handlinien zu dechiffrieren …« Ja, natürlich könne sie auch für Tania und Eda Pullover stricken – doch werde das ein paar Wochen in Anspruch nehmen. Da treten sie in Erscheinung, ihre Freundinnen Nina und Mary, Tania und Eda, schemenhafte Mädchengestalten aus dem letzten Herbst der Weimarer Republik; Gestalten, die voller Zuversicht, ja Leben sind – wie sie.
Ende Dezember ziehen sie, Charlotte und Heinrich, dann endlich in eine eigene Wohnung. Sie lag in der sogenannten Künstlerkolonie in der Nähe des Breitenbachplatzes – von der Berliner Schnauze auch Stempelberg am Pleitenplatz getauft. Es handelte sich um eine möblierte Zweizimmerwoh
nung mit Warmwasser und Zentralheizung, sie kostete 100 Mark pro Monat – und Charlotte war glückselig.
Stempelberg am Pleitenplatz
Ich werde vom Idyll angezogen wie die Motte vom Licht, möchte ein winzig kleines Idyll für sie konstruieren, so als ob ich ihnen dadurch etwas geben könnte, was all das Schlimme, das geschehen wird, irgendwie aufwiegt. Aber ich weiß wohl, dass der Herbst 1932 alles andere als idyllisch war, trotz allem. Und dass sie, die später meine Mutter werden sollte, alles daransetzte, sich mit ihrem Kommunisten eine kleines, bürgerliches Nest zu bauen, ist nur ein Teil des Gesamtbildes, das durch andere Tatsachen, die sich herausfiltern lassen, einen düsteren Anstrich erhält – und der viel mehr aus Kohlenstaub denn aus Goldstaub besteht. Er äußert sich in Erkältungen und anderen Krankheiten und vor allem in der zweiten Abtreibung, die sie Anfang Dezember vornimmt, »nur war die Narkose ziemlich scheußlich, sodass ich erkennen musste, wie schlecht meine Nerven noch sind«. Sie lässt die Abtreibung vornehmen, obwohl sie sich Kinder wünscht – und sie macht es nicht heimlich, Emilie weiß davon. Wahrscheinlich auch Fritz. Macht sie es, weil sie nicht weiß, wer der Vater des Kindes ist? Nein? Macht sie es, weil die Zeit es ihr vorgibt – ja? Sie macht es jedenfalls. »Die Narkose war ziemlich scheußlich« – und vermutlich weinte sie auch aus tiefster Seele, weil sie schon sechsundzwanzig und bald zu alt zum Kinderkriegen ist, schiebt es aber auf ihre Nerven. Aber Heini habe ihr vorgelesen und sei bezaubernd und Tania sei diese ganze Zeit über einfach sagenhaft gewesen.
Es mangelt ihnen an Geld – weshalb sie nicht nach Leipzig fahren und mit Emilie und Fritz Weihnachten feiern, und ich frage mich allmählich, ob sie überhaupt jemals in Leipzig waren, ich meine, so groß ist die Entfernung zwischen
den beiden Städten ja nicht. Warum, ach, warum bin ich bloß nicht hingefahren, mit dieser Frage wird sie sich jahrelang herumgequält haben. Und dann ist da der Bruch mit Thiess – es ist zu spät –, da ist die Liebesgeschichte zwischen Florence und Alexander, da ist die kleine Schwester Leni, die sich als irgendeine Art Haushaltshilfe abrackert – oder womit beschäftigt sich Leni? –, da ist ihre Mama, die von ihrem Magen geplagt wird und die sich obendrein noch den Kopf angeschlagen hat, da ist ihr Vater – ewig dieser Vater, mit seinen Projekten (vielleicht könnte Kurella ja eine Verbindung zu einer Moskauer Buchagentur herstellen?) –, und da ist immer und ewig die braune Gefahr, die über ihnen schwebt, und ja, Freunde, die ihrer Arbeit beraubt werden und, ach ja, die Zukunftsaussichten; was soll bloß aus Alexander werden? Und da ist Heini, »es ist furchtbar, wie anstrengend seine Arbeit ist«, der immer blasser und nervöser wird. Wozu er allen Grund hatte.
Aber die Wohnung war schön. Und dort, in
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