Meine Mutter, die Gräfin
und hemmungsloses Rauchen zu unkritischem Denken diszipliniert worden sei. Bei diesen Sitzungen sei die ganze »Zellenleitung« (der Polleiter in Person Heinrichs), der organisatorische Leiter, der Agitpropmann (derjenige also, der für die Propaganda zuständig war), der Kassierer, die Frauenleiterin und der Jugendleiter anwesend gewesen.
Und schließlich habe der »Genosse Referent« losgelegt. Er – natürlich war es ein Mann – habe über eine Stunde aus dem vom Zentralkommitee herausgegebenen Referentenmaterial das, was die Parteilinie vorschrieb, »referiert«, wodurch die Novizen mit dem ganzen Begriffsapparat vertraut gemacht worden seien, den sie beherrschen mussten, damit sie »Trotzkist!« rufen konnten, wenn jemand wie Istrati die Wahrheit aussprach – sodass das Raster intakt blieb.
Danach sei der »Genosse Organisator« an der Reihe gewesen und habe Zeitschriften, Broschüren und Flugblätter verteilt, die in der Gegend verkauft bzw. verteilt werden sollten, so Grete. Mit dem wachsenden Einfluss der Nazis seien diese Zellenabende immer langweiliger, immer bürokratischer, immer gezwungener und immer realitätsfremder geworden. Während dort die Braunen vorwärts stürmten, hätten sie hier in ihrem verräucherten Hinterzimmer in irgendeiner Gastwirtschaft gesessen und völlig sinnlose und
abstruse Aufgaben zugeteilt bekommen: innerhalb eines gewissen Zeitraumes 100 000 Mitglieder zu werben, mit anderen kommunistischen Zellen in einen Wettbewerb zu treten, Häuser abzuklappern und die Berliner von ihrer Botschaft zu überzeugen – um »tiefer in die Massen einzudringen«, so habe man es genannt. Ein Wortlaut, über dessen fast sexuell aufgeladene Metaphorik ich heute, während ich darüber schreibe, beinahe lachen muss.
Countdown
Da sitzen sie also, Grete, Heinrich und all die anderen – junge Idealisten, Kommunisten –, auf harten Holzstühlen und lernen, die Welt aus einem marxistisch-lenistisch-stalinistischen Denken heraus zu sehen, ein Denken, zu dessen Eigenarten es gehört, dass es sich häufig ändert – manchmal im Abstand von nur fünf Jahren –, ohne dass es sich »eigentlich« geändert hätte und ohne dass es damals oder heute falsch gewesen wäre. Um das zu verstehen, muss man wahrlich dialektisch denken können. Und während sie so dasitzen, breitet sich der Schatten immer mehr aus und droht bald die gesamte, auf wackeligen Beinen stehende Demokratie der Weimarer Republik zu überschatten – der Schatten der NSDAP , der Partei der Nationalsozialisten.
Und wo waren die Gegenkräfte? Die stärkste Arbeiterbewegung Europas, die deutsche, was machte sie? Die Sozialdemokraten sahen keinen anderen Ausweg, als Reichskanzler Brünings (von der Zentrumspartei ) reaktionäre Politik zu stützen. Dieser verbissenen »Tolerierungspolitik« zum Wohle der Demokratie war jedoch, wie bekannt, wenig Erfolg beschieden. Die Kommunisten wiederum – die ihre Brüder in der SPD gemäß der »ultralinken Linie« bekämpften und ihnen Sozialfaschisten! zubrüllten – ließen sich manchmal sogar auf eine Zusammenarbeit mit den echten Faschisten, d.h. den Nazis, ein.
Man denke an diese Wahl: 1930 war das böse Erwachen gekommen, als die kleine braune Partei mit einem Schlag hinter den Sozialdemokraten Deutschlands zweitgrößte Partei mit einem Stimmenanteil von fast 20 Prozent wurde – ein Sieg, der vom kommunistischen Organ Rote Fahne ach so schlau so kommentiert wurde: »Der sogenannte Wahlsieg der Nazis ist der Anfang vom Ende.« Zwei Jahre später, im Juli 1932, sollte die NSDAP die größte Partei mit über 37 Prozent werden. Wenn die SPD und die KPD sich zusammengetan hätten, hätten sie gemeinsam fast ebenso viele Stimmen erzielen können. Doch sie arbeiten eben nicht zusammen, im Gegenteil: Als die Nazis im Sommer 1931 in Preußen einen Volksentscheid forderten, um sich der sozialdemokratischen Regierung des Teilstaates zu entledigen, wurde dieser von der KPD unterstützt – die Kommunistenpresse rührte für einen »roten Volksentscheid« die Werbetrommel, obwohl die einzige Alternative zu einer Soziregierung eine nationalsozialistisch-konservative Koalitionsregierung war. Und zwei Tage vor der Neuwahl im November 1932 wurde ein Verkehrsarbeiterstreik in Berlin ausgerufen, bei dem Kommunisten und Nationalsozialisten einträchtig nebeneinander auf der Schöneberger Hauptstraße marschierten und gemeinsam Streikbrecher und Polizisten angriffen … Man stelle sich bloß vor: Ulbricht und
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