Meine Mutter, die Gräfin
mache ich nur sehr langsam Fortschritte, sie ist doch sehr schwer. Übrigens habe ich ein bisschen mein Englisch verbessert. Falls Ihr die Adresse von Tante Charlotte habt, so schickt sie mir bitte – ich bin ja immerhin ihr Patenkind.«
Es wundert mich sehr, dass sie sich mit der russischen Sprache schwertut, war sie doch so sprachbegabt. Das deutet darauf hin, dass Charlotte bzw. sie und Heini fast ausschließlich Umgang mit den ausländischen Emigranten gepflegt haben. Stattdessen übt sie, »Madam Schmidt«, sich darin, ihr Englisch zu verbessern – und dann der erneute Appell nach Tante Charlottes Adresse. Pläne?
Pläne, die Heini einschlossen oder nicht? Zuletzt ist er, Genosse Kurella, anscheinend doch noch hinterhergekommen; ja, so muss es gewesen sein, denn als sie im Nachhinein die Sommer aufzählt, die sie dort verbracht hat, war das »der Sommer mit Heini, 1936 in Sotschi«. Wie lange er wohl da gewesen sein mag?
Ich hoffe so sehr, dass es ein paar Wochen gewesen sind – Wochen mit Sonne, Essen, Wein, Liebe, Müßiggang, Tanz … mit ein bisschen Spaß? So war es doch? Ich weiß es nicht, würde ihnen diese Wochen voll Sonnenschein, Liebe und Schwimmen, und Wein und lustigen Abenden nur wünschen, würde ihnen wünschen, dass sie damals noch so jung und einfältig waren, dass die unterschwellige Bedrohung, die über allem hing, ihre letzte, ruhige gemeinsame Zeit nicht kaputtgemacht hat.
In Sotschi, Sowjetunion.
Aber wenn ich in den Scherben von damals krame, sieht
es etwas düsterer aus. Wenn er ihr im August überhaupt noch an den Urlaubsort gefolgt ist, sind vermutlich nicht viele Tage, geschweige denn Wochen, daraus geworden. Denn am 10. August wurde sein alter Freund aus Berlintagen, Heinrich/Kurt Süßkind, verhaftet, der wie Heini ein »Versöhnler« und Redakteur der Roten Fahne war. Und Grete zufolge befand sich Kurella, als sich das ereignete, in Moskau:
»Am Abend kam Heinrich Kurella zu Besuch. Er wußte bereits von Süßkinds Verhaftung. Diese Nachrichten verbreiteten sich damals in Moskau mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers. Süßkind und er waren Fraktionsgenossen gewesen. Beide hatten zu den Versöhnlern gehört, daher traf ihn die Verhaftung Süßkinds besonders schwer. Heinrich Kurella war einer unserer treuesten Freunde geblieben.«
Meine Mutter wird nicht erwähnt, wird in Gretes Buch überhaupt nicht erwähnt. Ihr ist später eine eigene Geschichte gewidmet – was aber nicht heißen muss, dass sie an jenem furchtbaren Abend, der in eine dunkle Augustnacht übergehen soll, nicht mit ihnen zusammengesessen hat. Es könnte aber auch sein, dass sie gar nicht da war. Heini, blass, spricht: Ich muss rüber zu Heinz, warte nicht auf mich.
Aber da sitzen sie – zu dritt oder zu viert – und sind zutiefst erschrocken. Oder? Denn wenn sich unter denen, die im 1. großen Moskauer Schauprozess, der zur selben Zeit im August 1936 gegen Sinowjew, Kamenew und die übrigen vierzehn begann, welche befanden, die sie kannten, konnte man ja vielleicht doch glauben, dass ein Körnchen Wahrheit darin lag – dass sie vielleicht doch Trotzkisten und somit die entsetzlichen Anschuldigen – die ganze Sowjetunion zu stürzen und Stalin zu ermorden – gerechtfertigt waren. Aber
Süßkind? Dafür, das wussten sie, dafür gab es keinen Grund. Süßkind war vollkommen unschuldig:
»Heinrich Kurella war an diesem traurigen Abend nicht weniger fassungslos als Heinz. Das Gespräch der beiden ist mir noch in vielen Einzelheiten gegenwärtig. Es wandte sich von den Tatsachen rasch der Theorie zu. Beide versuchten immer wieder mit Hartnäckigkeit, in der Theorie die Erklärung für die augenblicklichen Zustände in Sowjetrußland zu finden. Schließlich rief Kurella aus: ›Das ist die Konterrevolution!‹ Aber Heinz widersprach ihm nachdrücklich. Er setzte ihm mit tiefem Ernst auseinander, daß es die Konterrevolution auf keinen Fall sein könne, da nirgendwo eine wirtschaftliche Rückentwicklung zum Kapitalismus festzustellen sei und die Produktionsmittel sich nach wie vor in den Händen der Arbeiter befänden. Es müsse also etwas anderes sein. Aber was ›es‹ war, fanden sie nach stundenlanger Diskussion nicht heraus. Zu guter Letzt einigten sie sich, wie ich mich erinnere, darauf, daß es sich um eine Art ›kalter Konterrevolution‹ handeln müsse.
Während dieser absurden Unterhaltung hatte die erste Nacht begonnen, die Heinrich Süßkind im Untersuchungsgefängnis zubrachte.
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