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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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haben. Ein besserer Rückhalt ist kaum denkbar. Wenn es auch nicht viel ist, was dabei herauskommt, so genügt es doch, um uns durchzubringen, und ermöglicht uns, Unabhängigkeit zu wahren. Toi-toi-toi!
     Mama hat sich zu Weihnachten einen elektrischen Staubsauger gewünscht, den sie schon morgen bekommen wird. Leni hat von Mama eine hübsche kleine goldene Armbanduhr geschenkt bekommen. Heute Abend geht sie zu einem Kameradschaftsabend, und zwar in einem feinen blauen Kleid, das Mama ihr eben aus Deinem blauen Samtmantel genäht hat – tadellos!
     Die Wohnung ist wirklich sehr nett und gemütlich geworden. Das Einzige, was uns fehlt, ist ein Badezimmer.«

    Im Januar 1936 erkundigt sich Lottie, ob sie Butter und Speck mitschicken soll – nanu? –, weil ein guter Freund nach Deutschland fahre. Außerdem beklagt sie sich, dass sie allmählich einen dicken Bauch bekäme – und dann folgt ihr ständiger Wunsch: dass sie sie am liebsten allesamt durchfüttern wolle – hier gebe es genügend. Es gehe ihr also gut – viel Arbeit, viel Lernerei, (viel Essen), sodass ihr immer mehr aufgehe, wie wenig sie früher doch gewusst habe, wie ahnungslos sie durchs Leben spaziert sei.
    Und wieder gibt es von Fritz einen Durchschlag – mittlerweile steht der 11. Februar 1936 ins Haus, und sie würden sich Sorgen um Mama machen; sie wüssten nicht, woran es liege. Leni rackere sich mit ihrer Arbeit für die Reichsberufswettkämpfe ab, und Butter oder Speck brauche sie nicht zu schicken – »aber was hast Du für eine entzückende Freundin, sie ähnelt ja Mama, wie schön, dass Du solche Freunde hast! Und was den Kummer mit Deinem Bauch betrifft, so können wir ja leider nichts dagegen machen. Du kennst ja
die Redewendung: ›Allzu schlank macht schartig‹ – ich denke vollschlank ist auch nicht so übel.
    Und«, fährt er fort, der alte, unermüdliche Projekteschmied, »mit meiner Arbeit geht es nur reichlich langsam voran – denke aber, dass es sich eines Tages zu einem Unternehmen mausern wird, das es meinen Kindern ermöglicht, sich eine Luxusyacht zu kaufen und eine Weltreise zu machen … Und wir haben jetzt endlich Wasserklosetts im Haus. Es geht vorwärts!«
    1936
    Das Jahr, in dem sich die Schlinge zuzog. Das Jahr, in dem der 1. Moskauer Schauprozess stattfand.
    Das Jahr, in dem die Furcht zunehmend spürbar wurde, in dem die Gesichter blasser wurden, die Sprache gedämpfter, die Besuche spärlicher. Das Jahr, in dem Müller bzw. Brückmann immer mehr zu tun bekam und unzählige geheime Mitarbeiter, sekots, unter Namen wie »Doppelgänger«, »Doina« und »Hans« auf die Suche gingen und überall unter den ausländischen Kommunisten, die innerhalb der Komintern- und Parteiinstanzen tätig waren – Übersetzer, Dolmetscher, Lehrer – trotzkistische Konterrevolutionäre und faschistische Spione aufspürten. Das Jahr, in dem aus alten Meinungsverschiedenheiten – man denke an Neumann – unverzeihbare konterrevolutionäre Verbrechen wurden – verhängnisvolle.
    Die sowjetische Säuberung gegen den eigenen Kader, die eigenen alten Kampfgefährten wird nun intensiviert. Im Juli 1934 war das Volkskommissariat des Inneren gegründet worden, und jetzt bekam die Logik des Terrors ein zunehmend festeres bürokratisches Gefüge, jetzt (1935) nimmt der kleine Jeschow – von Montefiore, dem Stalin-Biografen, als Ungeheuer und blutiger Zwerg bezeichnet –, der Erste Sekretär der KPdSU , die Zügel in die Hand und lenkt den Terror ge
gen die eigenen Genossen. Als Nikita Chruschtschow 1956 seine berühmte Geheimrede über den Personenkult und seine Opfer hielt, behauptete er, dass von den 1966 Delegierten, die auf dem Parteitag 1934 gewählt worden waren, 1108 festgenommen wurden – also mit anderen Worten nur 858 Delegierte davonkamen.
    Der Blick richtete sich auch gegen die überall lebenden Ausländer, Emigranten und Flüchtlinge, gegen solche, die im Hotel Lux, im Hotel Sojusnaja ihr Leben lebten. Der ganze riesige Kominternapparat soll überprüft werden – zu diesem Zweck wird im Januar 1936 ein Volkskommissariat des Inneren eingesetzt.

    Und sie hören vielleicht, wie sie eines Nachts im März kommen, um »Mischka« zu verhaften, die im Hotel Sojusnaja wohnt und die sie gekannt haben mussten. Es besteht so gut wie kein Zweifel daran, dass sie Mischka oder Wilhelmine Müller-Slawutzkaja gekannt haben; Mischka, die im gleichen Alter wie meine Mutter war und in Riga geboren worden war, Mischka, die bei der

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