Meine Mutter, die Gräfin
reden. Und redet und redet.
Er habe gedacht, beginnt er, dass es keine Trotzkisten mehr gäbe – »ich habe nicht gewusst, dass die Trotzkisten nach wie vor versuchen, in der Sowjetunion Leute anzuwerben« –, erinnert sich dann aber an seine eigene Geschichte und welch ständige Mühsal es gewesen sei, gegen die Trotzkisten anzukämpfen:
»Wenn ich mich an die Liste der Schandtaten der Trotzkisten erinnere, ist ein Gefühl von ungeheurem Hass gegen die Trotzkisten in mir, die von A bis Z nichts weiter gemacht haben, als die Partei zu hindern, zu zerstören. […] Im Augenblick, als ich hörte, die Leute sind geständig, diese Leute verdienten, dass man sie erschießt, war ich mir klar, diese Leute muss man erschießen, dachte aber, das die Erschießung dieser Leute Schwierigkeiten für unsere Einheitsfrontpolitik bringen wird.«
Nach diesem einleitenden Treueschwur – und man sollte erwähnen: Dass man sie nicht sofort erschossen hatte, geschah allein aus dem Grund, weil man Rücksicht auf die Durchführung der strategischen, von der Sowjetunion, d.h. Stalin vorgestellten neuen Volksfrontpolitik, nehmen wollte – war es Zeit für die Selbstkritik, diese Wiederbelebung des christlichen Sündenbekenntnisses: »Ich armer, elender, sündiger Mensch«.
Doch, er habe über die Fehler nachgedacht, die er 1928/1929 begangen habe, als er nicht der Meinung gewesen sei, dass die KPD eigene Gewerkschaften gründen solle, und dass man ihn deshalb damals »Versöhnler« genannt habe (man bemerke seine Kehrtwende: Andere hätten ihn mit diesem Etikett versehen, er habe nicht fraktioniert, und damals hätte er nicht begriffen, wie sehr er der Partei dadurch Schaden zugefügt habe: »Ich habe die Partei im Kampfe gehindert, habe eine Stellung eingenommen, die in Wirklichkeit parteifeindlich war.«
Danach gesteht er, dass er einige der sechzehn Angeklagten (im sogenannten 1. Moskauer Schauprozess) persönlich gekannt habe: Er habe Fritz David, der bei der Rote Fahne -Redaktion in Berlin gearbeitet habe gekannt, er habe Konon Berman-Jurin, ebenfalls aus Berlin, gekannt und Emel Lurie (Alexander Emel/Moissej Lurje). Und Süßkind:
»Süßkind ist, wie ich nach Rückkehr erfuhr, verhaftet. […] Ich weiß nicht, warum Süßkind verhaftet ist, denke aber, dass es im Zusammenhang damit geschehen ist. […] Ich kenne einen Teil dieser Leute, habe an ihnen nichts gefunden, habe keine Ursache gehabt, nur meine große persönliche Antipathie.«
Und er redet und redet – ja, er redet um sein Leben: Wie könne so etwas geschehen, wo wir doch alle so schlau sind – diese fürchterliche Doppelzüngigkeit –, hätten sie überhaupt eine Garantie dafür, sagt er kühn, dass so etwas nicht auch in ihrem eigenen Haus geschehe?
»Haben wir eine Garantie, dass selbst im Hause [Die Komintern? Die Partei?] nicht heute noch Leute stehen?! Können wir mit so einer Gewissheit herumlaufen? Wie soll man Wachsamkeit üben?!«
Und dann das letzte Ritual: »Genossen, ich brauche Hilfe, Hilfe, damit ich wachsamer sein kann. Wir alle in der Zelle haben doch Gründe, uns schuldig zu fühlen.« Und es gelingt Heini sogar, auf den letzten Metern einen leicht verdrossenen, entrüsteten Ton mitschwingen zu lassen: So dürfe es nicht länger zugehen!
Insgesamt hat er so lange geredet, dass fünf maschinengeschriebene Seiten dabei herauskamen – also ungefähr 30 bis 40 Minuten lang.
Er hatte ein Problem. Und das hatte er nicht zur Sprache gebracht. Es betraf seinen Freund Süßkind und lässt mich noch stärker über Gretes Geschichte nachdenken. Süßkind war bereits im Mai 1935 aus der Partei ausgeschlossen worden, womöglich wegen ihm – Kurella. Süßkind wurde die Arbeit weggenommen, er musste seine Kleidung, Bücher, ja alles was er sonst noch besessen haben könnte, verkaufen, um zu überleben. Im Januar 1936 wurde er aus dem Lux geschmissen.
Aber dann kam es zu einer unerwarteten Wendung. Nach einem Brief, den er an seinen Freund Georgi Dimitrow, Generalsekretär des EKKI und Held des Prozesses um den Berliner Reichstagsbrand 1933, schrieb, wurde er tatsächlich wieder in die Partei aufgenommen. Ihm wurde auch sein alter Arbeitsplatz in der Agitprop-Abteilung der Komintern, in der auch Kurella arbeitete, wiedergegeben. Also hatten sie im Juni miteinander verkehrt: Drei, vier Mal hatte Kurella Süßkind bzw. Heinrich (wie er ihn nannte – beim Vornamen. Irgendwer hat ihn im Protokoll mehrfach unterstrichen) besucht und dieser wiederum
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