Meine Mutter, die Gräfin
Komintern arbeitete und mit Kurt Müller verheiratet war, der in einem deutschen Konzentrationslager saß. Sie müssen auch bemerkt haben, dass Anatol Becker, Carola Nehers Mann, verhaftet wurde. Und als Carola Neher selbst am 25. Juli 1936 verschleppt wird und ihr der kleine Sohn weggenommen wird – was sagen sie da? Arme Mischka? Arme Carola! Armer Anatol! Wie schrecklich? Oder sagen sie: Wer hätte das von Mischka, von Anatol gedacht? Von Carola? Wie schrecklich! ?
Winter und Frühling vergehen, Genossin Stenbock arbeitet hart – als Setzerin? – und studiert eifrig, wie sie ihrer Familie schreibt. Sie lernt: »Es gibt so viel, wovon ich früher nichts gewusst habe, wie ahnungslos ich doch durch das Leben spaziert bin!« Was lernt sie?
Das Alltagsleben hat sie fest im Griff: »Durfte mir zehn Tage Urlaub nehmen, um mich um den Haushalt zu kümmern – Strümpfe stopfen und so.« Ein bisschen magerer sei sie wohl auch geworden.
Und es geht ums Essenkochen, Mahlzeiten für den empfindlichen und wählerischen Heini – »Du weißt ja, maman , er isst keine Kartoffeln und will jeden Tag Fleisch haben« – aber sie koche vollständige Menüs auf ihrer Herdplatte und Heini sei mit ihrer Kochkunst sehr zufrieden. Und es geht um ihre Zähne – sie würden sie sehr quälen, aber sie wage es nicht, zum Zahnarzt zu gehen, weshalb Heini schon wieder mit ihr schimpfe. Aber er schlägt sie nicht. Denke ich. Sie lieben sich. Denke ich. Sie geht in ihrem Zimmer auf und ab und wartet auf ihn. Denke ich. Und er kommt immer ein bisschen zu spät, sodass sie fürchtet, dass das Essen kalt werden könnte und hinüber ist – aber dann kommt er, der bleiche Heini, die kleine Mimose, der jeden Tag sein Fleisch haben will …
Aber sie lieben sich. Denke ich. Trotz allem.
Die Sehnsucht nach dem Sommer: Dann werden sie eine lange Reise durchs Land machen – sie ist in dieser ganzen Zeit nicht einmal aus der Stadt herausgekommen. Eine lange Reise, Urlaub, damit sie sich erholen kann, damit sie danach umso härter arbeiten kann: »Denn Hausfrau spielen und keine richtige eigene Arbeit zu haben, vom Manne abhängig zu sein, liegt mir auf die Dauer doch nicht. Das ist wohl mein mütterliches Erbteil und mein allmählich sehr gereiftes Alter (bald 30 Jahre), das sich bemerkbar macht.«
»Ansonsten gibt es nichts zu erzählen«, schreibt sie im April 1936. »Was in der Welt geschieht, ist ja ungleich interessanter. Für uns ist es interessant zu beobachten, wie diese ganzen verschiedenen Ereignisse das persönliche Verhalten und Handeln der Menschen beeinflusst. Ein buntes Schauspiel. Denkt daran, dass ich nicht so oft schreiben kann« ( ach ja? ).
Siehe da – ein winzig kleines Anzeichen? Vorsichtig, Genossin! Interessant?!
Und wenn man schon überinterpretiert, dann enthält dieser Brief von 1936 auch einen winzig kleinen Faden, den man aufnehmen kann: »Wie lautet Tante Charlottes Adresse?« – die Adresse ihrer Tante in England – und »wie war das noch, haben wir nicht Verwandte in Paris? Falls ja, so schickt mir doch bitte ihre Adressen.« Und: »Wisst ihr zufällig, wo Tante Käthe [eine ihrer Patentanten, nach denen sie auch genannt wurde] lebt und was sie macht?«
Sondierungen?
Am 23. Juni schreibt sie, dass sie jetzt auf jeden Fall wegfahren werde – in den Süden –, um sich gründlich zu erholen. Allerdings fahre sie ohne Heini, er werde erst im August hinterherkommen, und dann blieben sie bis Ende September da. Little did she know , denke ich betrübt.
Der Sommer vor dem Sturm
Ihr Weg führte sie bis nach Sotschi am Schwarzen Meer, denn das war ihr Ziel. Das einzige Foto, das aus ihrer Sowjetzeit von ihr existiert, ist vermutlich dort, auf einer Terrasse, im Sommer davor aufgenommen worden. Eine magere Frau mit sehr kurz geschnittenen, dunklen Haaren steht dort in einem hellen Sommerkleid, wendet sich ab vom Tisch und den Korbstühlen und hin zu jemandem, der sich außerhalb des Bildes befindet – auf der Rückseite steht »Madam Schmidt« – warum?
Der Brief, den sie im September nach Hause schickt, enthält keine Namen, keine konkreten Anweisungen, hier war Wachsamkeit und Vorsicht geboten, hier musste man sich in konspirativer Lehre üben:
»Ich habe jetzt sehr stille und ruhige Monate hinter mir, für meinen unruhigen Geist zu ruhige. Ich finde es ausgesprochen langweilig, nur Hausfrau zu sein, zu kochen etc. Es macht mir nur Spaß, weil Heini meine Küche so gut schmeckt.
In der Landessprache
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