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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Ich dachte an Anja Vikova und vermochte den theoretischen Spitzfindigkeiten der beiden verzweifelten Männer nicht mehr zu folgen. Und ich dachte auch daran, wer von uns wohl der Nächste sein würde.«

    Das ist der Punkt, an dem mir allmählich dämmert, dass sie – Charlotte, Mama, Genossin Stenbock – doch nicht richtig begreift, was vor sich geht. Nicht, weil Heini sie nicht eingeweiht hätte, sondern weil er so in diesen Apparat eingegliedert ist, dass er nur in diesem Rahmen denkt. Wenn ich Grete Glauben schenken kann, sitzen sie ja wie zwei Jesuiten
da, die versuchen, sich innerhalb des ideologischen Rahmens einen Reim auf das Geschehen zu machen.
    Dass ich diese Lehre, die ich aus meiner Doktorarbeit gezogen hatte, vergessen konnte, die doch, wie ich damals fand, meine große Errungenschaft war. Die Lehre, dass im Kreis der schwedischen Kommunisten kein »Double-Talk« vorgekommen war, sondern dass sie die Phrasen, die Propaganda, die Ideologie, ja alles so verinnerlicht hatten, dass sie sie sich zu eigen gemacht hatten. Also selbst wenn Mischka und Carola und Anatol und Süßkind verhaftet worden waren, selbst wenn seltsame Dinge vor sich gingen und alte kommunistische Kampfgefährten festgenommen wurden, so konnte man auch das ganz bestimmt mit seinem eigenen Weltbild in Einklang bringen: Sie hatten versagt, Fehler gemacht, Verrat begangen usw.
    Andererseits, sage ich mir, während ich weiter hin- und herüberlege, war Charlotte ja nicht so indoktriniert wie Heini, ja, vielleicht hat sie ja manchmal wie das Kind in H.C. Andersens Märchen unverblümt die Wahrheit gesagt: »Aber sie haben ja gar nichts an, Heini, sie haben ja gar nichts an!«
    Und nichts – um diesem Gedankenkarussell einen dritten Aspekt hinzuzufügen – muss einen schließlich daran hindern, das eine und das andere zu denken: Also in diesem Rahmen zu denken und Entsetzen zu verspüren; zu denken, sie werden doch wohl nicht … Jenes »Double-Think«, von dem auch Koestler spricht, jenes Denken, das man ins Kellergeschoss abschiebt, das man in die hintersten Gehirnwindungen stopft – doch erklimmen diese Kellergedanken erst einmal die Bewusstseinsebene, bedrohen sie die gesamte Existenz, nicht nur von außen, sondern vor allem von innen heraus.
    Das führt zu einer eigenartigen »Doppelheit«, die auch Gretes Text anhaftet: In ihrer Geschichte scheinen sie – Grete und Heinz – manchmal zu wissen und zu begreifen, was
vor sich geht; alles zu durchschauen, als seien sie frei von jeglichem ideologischen Überbau – während sie jedoch gleichzeitig so agieren, als ob sie nichts wüssten und begriffen. Wenn sie jenen Abend in ihrem Hotelzimmer im Lux noch richtig in Erinnerung hat, dann strampeln sie noch, sind gänzlich im lenistisch-stalinistischen Netz gefangen. Und ihre Rettungsleine ist auf dem besten Wege, sie beide zu erdrosseln. Kalte Konterrevolution!

    Aber weshalb greift er dann nach ihren Händen? Und weshalb hat er sich Süßkind gegenüber so verhalten, wie er es getan hat? Davon erzähle ich später noch … Und er muss sich doch zumindest gefragt haben, weshalb er – schon wieder! – Anfang Juli 1936 eine Autobiografie abgeben soll? Wo er doch erst am 8. Juli eine ziemlich ausführliche Autobiografie verfasst hat – jene, aus der ich im vorigen Kapitel lange Auszüge zitiert habe, jene mit den unzähligen Namen …

    Vier Tage nach jenem Abend im Lux begann der Prozess gegen das trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum, wie es damals hieß. Der Prozess fand zwischen dem 19. und 24. August statt, und sie – Heinz, Grete und Heini – mussten die Verhöre, mussten die Geständnisse Wort für Wort übersetzen, was ihren Glauben an eine »kalte Konterrevolution« eigentlich als puren Witz hätte erscheinen lassen müssen – oder?
    Einen knappen Monat später, am 15. September, wird Genosse Kurella zur Parteiversammlung einbestellt, d.h. zur deutschen Vertretung der Kommunistischen Partei innerhalb der Presse- und Propagandaabteilung des EKKI . Das Protokoll ist auf Deutsch. Es hat einen Umfang von 33 Seiten.
    Die Frage Kurella. Erster Akt
    Es ist Genosse Scholdak, der die Parteiversammlung leitet, und er hat eine Frage – eine Frage an Genosse Kurella. Der jetzt selbst zu einer »Frage« geworden ist. Genosse, erläutern Sie uns Ihre Einschätzung des Prozesses und Ihre Beziehung zu Süßkind.
    Und Mamas blasser Heini, der Mann, der ihr den schönen Opalring schenkte, den ich am Finger trage, fängt an zu

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