Meine Mutter, die Gräfin
bis spät beschäftigt [die Angeklagten des 1. Moskauer Schauprozesses]. Ich muss noch Schlussfolgerungen ziehen, ich muss mich erziehen, selbst erziehen, aber ich weiß auch, dass die Partei mir helfen wird. Meine Freundschaft mit Neumann ist ein Punkt davon, worüber ich nachdenken muss, aber dass ich hier einfach sagen soll, Schluss mit diesem Mann, ich würde euch Märchen erzählen, ich habe Angst davor. Ich habe einen Freund, er ist in der Partei, er hat zwar eine schlechte Vergangenheit. Ich habe nur eine Frau, die ich liebe, und einen Freund. Vielleicht muss ich mit ihm brechen, aber ich kann es hier nicht an Ort und Stelle sagen. Dazu nehme ich meine Freundschaft zu ernst.«
Ganz blass ist er. Jetzt hat er die ganze Wahrheit gesagt – nichts als die Wahrheit. Vielleicht hat sie das ein wenig er
griffen? Scholdak läutet allmählich das Ende der Versammlung ein. Kurella soll seine Situation überdenken und wir werden darüber nachdenken, welche Fragen wir noch an ihn richten wollen – nicht nur über Neumann, bei dem es sich ja nur um eine Detailfrage handelt, sondern über die ganze Geschichte. Kurella soll sich in Selbstkritik üben und erneut für uns Bericht erstatten – und wir wollen unseren Schlussstrich ziehen und einen Entschluss fassen. Heute schon eine Entscheidung zu treffen ist verfrüht – so soll der Beschluss des Tages lauten. Es ist gut, Genossen, dass wir Gelegenheit hatten, eine Rückschau zu halten, und dass wir einen Genossen besser kennen gelernt haben. Aber ich muss unterstreichen, sagt er, und dreht sich zu den erschöpften, blassen Gesichtern, die um den Tisch sitzen, um, wir müssen hervorheben, dass bei uns nicht alles in bester Ordnung ist. Wir werden uns weiterhin mit der Frage Kurella beschäftigen, und was heute auch zu bedauern war, ist die mangelhafte aktive Beteiligung mancher Genossen, die keine Fragen gestellt haben …
Da mischt sich Genosse Werner ein – wir machen weiter! –, Genosse Remmele jedoch, der auch nicht viel gesagt hat und ebenfalls bald vor seinen Scharfrichtern stehen wird, wirft ein, dass es reiche. Genosse Becker schlägt vor, eine Kommission einzusetzen, und es kommt trotz Scholdaks Widerstand zu einer aus ihm und den Genossen Tjernin und Krylow bestehenden Kommission. Und nach einem belanglosen Geschwätz über Ordnung und Kommissionen und wer dafür und wer dagegen sei und wer sich in Selbstkritik üben solle, wurde die Versammlung beendet. Womöglich war da schon der 16. September angebrochen.
Die Frage Kurella. Zweiter Akt
Zwei Wochen später, am 28. September, war die Zeit reif für den zweiten Akt des Dramas Kurella. Von den ca. zwanzig Anwesenden – verbissene Mienen – werden Richard Mehring, Hermann Remmele, Hans Knodt (Deckname Ander), Sophie Kirschbaum, Susanne Benes und Rada Vojuvic/Licht später ebenfalls verhaftet.
Und jetzt fangen meine Augen an zu schmerzen – etwas Düsteres eilt allem voraus, das ich vor mir sehe; wie ein schlechtes Omen, ein Vorzeichen, als ob sich ein Schatten jenes Abends, jenes Herbstes darüberlegt. Ich kann mir keinen Reim mehr aufs Protokoll machen, ich verliere mich in der deutschen Sprache, ja, in mir steigt angesichts dieser Seitenmenge, die ich inzwischen in teilweise verschiedenen Fassungen geschrieben habe, beinahe Panik auf – während ich immer wieder einen Blick zurück ins Original werfe, in die Kaderakte über Kurella, die sich gescannt auf einer CD -Rom befindet, die Reinhard Müller mir geschickt hat.
Worum geht es? Wir müssen verschiedene Schichten durchdringen. Zuerst geht es wieder um Kurellas Verhältnis zu den drei Angeklagten des 1. Moskauer Schauprozesses, David, Berman-Jurin und Emel, und um sein Verhältnis zum verhafteten Neumann – um dieselbe Sache also. Jetzt aber hat die kleine Kommission ihre Untersuchung abgeschlossen, sodass die Frage nach Kurellas Beziehung zu den dreien recht schnell vom Tisch ist, hat es sich hierbei doch nur um reine Arbeitskollegen in unterschiedlichen Kontexten gehandelt. Aber was seine Beziehung zu Süßkind betrifft, bohren sie nach. Bohren und bohren.
Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass Genosse Kurella die Partei Anfang 1935 vor Süßkind gewarnt hatte. Anfang 1935 – nota bene – womöglich im Februar? Er hatte einen Brief geschickt, in dem er vor Süßkind gewarnt hatte. Dieser Brief an sich war ja schon eine Untersuchung wert – doch die rings
um den Tisch versammelten Genossen bohren, wie mir auffällt, gar nicht so sehr in
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