Meine Mutter, die Gräfin
und ich, von allen guten Geistern verlassen, erzählte ihm die wahre Geschichte und verstieß dadurch gegen alle Regeln der Konspiration …
Der Ausdruck seines Gesichtes schwankte zwischen ungläubigem Staunen und verächtlicher Feindseligkeit. Dann fragte ich auch noch, um das Maß voll zu machen, nach
der Adresse der Emigrationsleitung. Er erhob sich brüsk, bedeutete mir zu warten und ging zurück an den Tisch zu seinen Genossen. Ich sah, wie sie die Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten, immer wieder neugierig-kritische Blicke auf mich werfend. Mir brach der Schweiß aus, und der Rest normalen Menschenverstandes sagte mir, daß ich einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen hätte.«
Und so war es auch.
»Wir können Ihnen nicht helfen!«, fauchte sie der junge Mann an.
Und da saß sie, ganz niedergeschmettert, und dachte: So behandeln mich also meine kommunistischen Landsleute …
Aber wie konnte sie so etwas denken, nach allem, was sie in Moskau unter Genossen erlebt hatte?! Erneut fällt mir hier so ein irritierendes Gleiten, so eine »Doppelheit« zwischen naiver Unschuld und gereifter Erkenntnis auf, und wieder einmal ist Gretes Geschichte der Auslöser dafür. Oder es ist ein Gleiten zwischen verschiedenen Zeitpunkten, denke ich. Damals – naiv, heute – gereift.
Statt Hilfe bekam sie – Charlotte – zwei Tage später Besuch von der dänischen Polizei, die sich in ihrem Hotel einfand und sie aufs Polizeirevier brachte, und – aber liebe Frau Gräfin Stenbock-Fermor, was machen Sie denn hier?! Wie sind Sie hierhergekommen?!
Und sie erzählte ihnen in etwa dieselbe rührselige Geschichte, die sie zuvor auch schon aufgetischt hatte, erzählte ihnen, wie sie in Moskau gelitten hatte, weshalb sie ja auch den deutschen Botschafter aufgesucht habe. Die Polizisten glaubten ihr nicht, gestatteten ihr aber, ein Asylland zu wählen, und so nahm sie Kontakt zu Tania, Heinis Schwester, auf, die in Paris wohnte, und sie wurde an Bord eines Schiffes gebracht und landete in Frankreich, weil Tania für sie gebürgt hatte.
Zuletzt fragte Grete sie noch:
»Hast du eigentlich jemals herausgefunden, Charlotte, für welchen Auftrag dich die Spionageabteilung des NKWD ausersehen hatte?«
»Ja«, erwiderte sie. »Damals im ›Sojusnaja‹ vergaß ich nämlich, dir zu erzählen, daß mich der Kerl auch nach einem Onkel in Hamburg fragte, der dort ein Baugeschäft besaß. Erst vor kurzem erfuhr ich nun, daß dieser Onkel im Auftrage der Naziregierung militärische Anlagen auf den westfriesischen Inseln erstellte …«
Hier endet Gretes Geschichte von der Bourguika, mit eben diesen Worten. Sollte sie also nach Hamburg reisen und bei Onkel Otto in der Sierichstraße 54 wohnen, denn um ihn muss es sich ja gehandelt haben? Und dann? Hatte sie den Auftrag bekommen, Informationen über diese militärischen Anlagen an die Russen zu schicken? Mama – Mata Hari … Und Papa schmunzelte und Mama holte den Topf mit Kartoffeln, und Eilis und meine Gedanken wanderten zu unseren Ausschneidepuppen, und wohin Svens Gedanken wanderten – keine Ahnung.
Die Quellen
Aber stimmt Gretes Geschichte überhaupt? Wenn sie am 4. Februar aus Moskau losgefahren ist, war sie am 5. in Lettland. Wenn sie dort mehr als 12 Tage darauf gewartet hat, dass das Eis schmilzt, ist sie am 16. Februar von dort weitergefahren und am 17. in Kopenhagen angekommen. Wenn sie dann ein paar Tage – oder gar eine Woche – die Zeit totschlägt, dann wäre sie Ende Februar 1937 von der Polizei aufgegriffen worden. Sie geht aber erst Ende Juli desselben Jahres nach Paris. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Was hat sie gemacht, wovon gelebt? Und warum soll sie nach Kopenhagen fahren, wenn sie doch einen Spionageauftrag in Hamburg ausführen soll?
Und vor allem: Wie ist diese Geschichte mit der sowjetischen Akte 6433 über die »Frau von Heinrich Kurella« in Einklang zu bringen, die im September 1937 angelegt wurde? Man beachte: Zuerst kommen die Quellen, an zweiter Stelle die Geschichten. Und die folgenden, chiffrenartig aufgeführten Punkte, die über ihren Kopenhagen-Aufenthalt Auskunft geben, sind – wieder einmal – rätselhafte Geschichten in Kürzeln, so etwas wie ein stichwortartig verfasstes Drehbuch für einen düsteren Spionagethriller. Die Punkte 47 bis 79 berühren die Zeit, die sie in Dänemark verbringt. Es sind viele Punkte:
47 – im Emigrantenheim
48 – Dr. Behrendsohn
49 – Trotzkist Schirren
50
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