Meine Mutter, die Gräfin
Nichtangriffspakt 1939 bis 1941 ausgetauscht wurden.
Am 25. Mai 1937 wurde Kurella aus der Komintern ausgeschlossen. Im Juni wurde seine Bitte um eine Ausreise nach Frankreich, um dort Parteiarbeit für die KPD zu betreiben, abgelehnt. Am 19. Oktober 1937 wurde er verhaftet. Nach Folterungen, unter denen er gestand, Gestapoagent, Provokateur und Mitglied in der antisowjetischen Antikominternorganisation gewesen zu sein, wurde er am 28. Oktober 1937 zum Tode verurteilt und an diesem Tag auf dem Schießplatz Butowo-Kunarka hingerichtet. Heinrich Kurella wurde 32 Jahre alt.
Paris 1938.
Kapitel 8
Ein Puzzle zusammensetzen
Kopenhagen – Paris – Pontigny 1937-1939
Ich frage mich, wann sie das bisschen, das sie über ihr Leben erzählt hat – Fetzen, Bruchstücke –, eigentlich erzählt hat. Das bisschen, das ich »weiß« – dass sie Heinrich Kurella geliebt hat, dass er ihr den Ring geschenkt hat, dass sie sich für diesen Sonnenuntergangsring entschieden hat, als sie an die sowjetische Grenze kam und der Grenzbeamte in ihre Papiere sah und sagte, dass nur zwei Ringe erlaubt seien – so war das doch? – und dass sie da einen der kostbaren Ringe vom Finger gestreift und Kurellas behalten hat. Dass sie nach Kopenhagen kam und sich blamierte, weil sie nicht zur Spionin taugte – war das damals, als Papa gereizt das Thema wechselte oder es ins Lächerliche zog? War das damals, als wir noch das grüne Wachstuch mit den weißen Punkten und die gelbrandigen Teller mit schwarzen, quer verlaufenden Strichen hatten und Mama sich vom Tisch erhob und den Topf mit den Kartoffeln holte und draußen trübes, graues Novemberwetter herrschte und es dunkel in unserer Küche in Hökarängen war und Eilis und meine Gedanken zu unseren Ausschneidepuppen wanderten und Svens Gedanken – ja, wohin wanderten Svens Gedanken – keine Ahnung.
Oder hat sie uns das auf Deutsch zugeflüstert, als sie unsere Windeln wechselte oder uns stillte, oder hat sie es nur einem von uns zugeraunt oder uns allen, als sie auf der Bettkante des Bettes saß, in dem wir Kinder zu dritt lagen? Aber eigentlich glaube ich das nicht, denn soweit ich mich erinnern kann, hat sie uns nie Märchen erzählt; sie war ja nie
zu Hause und ich erinnere nichts dergleichen. Und das war ja auch kein Märchen.
Selbst wenn es in Gretes Geschichte über das Schicksal der schönen, ahnungslosen »Bourguika« wie ein Märchen klingt:
»Ich hatte einen Platz im Meshdunarodny Waggon [der Waggon für internationale Reisende], ganz vornehm, in der 1. Klasse. Saß allein im Coupé mit schmerzendem Herzen und voller Schuldbewußtsein, weil ich an euer Schicksal dachte, an unseren Abschiedsabend im ›Sojusnaja‹, an die letzte Nacht mit Heinrich. Nur ihn habe ich geliebt … Fünf glückliche Jahre. Es wurde dunkel. Der Zug rollte durch die Nacht, und mir war entsetzlich bange. Ich versuchte zu schlafen. Es ging nicht. Langsam kam der Tag. Der Zug hielt an. Daß es die Grenze war, erfaßte ich erst, als ein sowjetischer Beamter die Coupétür öffnete und mir meinen Paß zurückgab. Von diesem Moment an mußte ich alle Kraft zusammennehmen, damit keiner merkte, wie heftig ich zitterte. [In Gretes Geschichte findet der Ring keine Erwähnung.] Der Zug fuhr durch eine Art Niemandsland, hielt von neuem, und lettische Beamte kontrollierten Paß, Fahrkarte und Koffer. Alles ging gut. Da sah ich das Bahnhofsschild ›Kaunata‹. Mit einem Schlage war der Jammer weggewischt. Mir war zum Singen zumute. Ein freies Land!
Und dann in Libau ein schönes, sauberes Hotel. Höfliche Menschen. Ein Zimmer mit Bad. Es mag seltsam klingen: nach Wochen verbrachte ich die erste ruhige Nacht. Ja, so ist der Mensch … […]
In Libau entschied sich mein Schicksal. Als ich am Tage nach der Ankunft ins Hafenbüro ging, teilte man mir mit, das Schiff nach Kopenhagen könne nicht auslaufen, da der Hafen zugefroren sei. Die Passagiere hätten einige
Tage zu warten. Und wenn schon. Mir war es nur recht. Ich schlenderte durch die Straßen der Stadt mit ihren schönen alten Häusern, den kleinen Läden, wo man alles kaufen konnte, genoß die Farbigkeit des Lebens nach der grauen Düsternis in Moskau und blickte, gegen alle Vernunft, voller Hoffnung in die Zukunft; ich malte mir aus, wie es sein würde, wenn ich mit Heinrich wiederum in der Schweiz lebte.
Tag für Tag lief ich zum Hafenbüro. Als eine Woche vergangen war, ohne Aussicht auf Weiterreise, denn das Eis wollte nicht brechen,
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