Meine Mutter, die Gräfin
Verschwörungsnetz verwickelt ist – dass sie zwischen verschiedenen Spionageorganisationen steht. Weiß die eine Hand eigentlich, was die andere tut? Wird sie von Exilkommunisten, die sich in den verräucherten Cafés tummeln, bei den Agenten (?) der Komintern angeschwärzt, beschuldigen sie sie, Klatsch zu verbreiten? Oder beschwert sie sich darüber, dass sie so ihren Auftrag nicht ausführen kann – auch wenn sie ihr Möglichstes versucht? Aber was macht sie?
Außer Gretes romantischer Geschichte und dieser rätselhaften sowjetischen Quelle besitze ich nur noch eine Handvoll Briefe, die sie im Winter bzw. Frühling 1937 aus Kopenhagen an Emilie und Fritz geschrieben hat. Dadurch erfahre ich die Adresse, wo sie damals in Kopenhagen gewohnt hat – was in diesem undurchsichtigen Gebräu wohl mit das Unwichtigste ist. Sie hat im Hotel Lucas, Nørre Alle II , Zimmer 61 gewohnt.
Sie muss ihnen ein Telegramm geschickt haben. Bin in Kopenhagen – stopp – alles gut – stopp – könnt Ihr nicht kommen? Und sie rufen an, und sie bricht in Tränen aus, als sie die Stimme ihrer Mutter hört. Am 22. Februar 1937 schreibt sie ihnen dann einen Brief. Der Stil des Schreibens verwandelt sie wieder in ein unschuldiges Schulmädchen: »Wie geht es Euch? Mir geht es gut.« Ihrer Mutter gilt wie immer die erste Sorge: »Wie geht es Dir?! Ich mache mir solche Sorgen – wenn Du noch nicht einmal mehr Straßenbahn fahren
kannst, ja, wie willst Du dann herkommen können? Ich würde mich so freuen, wenn Leni mitkommen könnte. Würde zu gern wissen, wie sie heute so ist.« – Das wäre bestimmt eine seltsame Begegnung geworden, denke ich bei mir. Was stellte sie sich vor? Wollte sie ihre kleine Schwester von den Parolen der Braunen abbringen? Sie auf die richtige Seite ziehen? Sie, die Gesandte der GPU , und ihre kleine Schwester, Mitglied von Hitlers BDM ?
»Na ja«, fährt sie keck auf Deutsch fort und wirft mit Redewendungen um sich – »kommt Zeit, kommt Rat; man soll die Flinte nicht ins Korn werfen, das habe ich in der letzten Zeit gelernt. Hier ist alles schön und ruhig« – vor allem ruhig! – »und die Pension ist preiswert, das Essen schmackhaft, es gibt dreimal täglich Kaffee und mein Zimmer ist hübsch. Hier kann ich mich wirklich erholen, sodass ich bald wieder klarer sehe. Auch wenn ich mir bisher weder über meine Situation noch über mich selbst im Klaren bin. Was Papas Vorschlag und Rat betrifft, dass ich ein Buch über mein Leben schreiben soll (Fritz träumt: In den Schaufenstern der Sensationsroman seiner Tochter, der reißenden Absatz findet: ›Ich lebte in Moskau – eine Augenzeugin berichtet über Stalins Terror‹, der ihr haufenweise Geld einbringt, sodass sie sich alle im Ausland, vielleicht in den USA , wiedersehen können …) – so hätte ich zwar genügend Stoff dafür, aber ihr wisst ja selbst, dass ich nicht das Geringste schriftstellerische Talent besitze – das zeigen ja schon meine Briefe.« Aber sie hat eine Bitte: »Habt ihr vielleicht einen Zeitungsausschnitt von meinen Eskapaden im Juni 1934? Könnt ihr mir den bitte schicken?«
Diese letzte Bitte interpretiere ich so, dass sie Material sammelt, mit dem sie ihren Status als politischer Flüchtling untermauern könnte. Beweise dafür, dass sie wegen ihrer »Eskapaden« aus der Schweiz ausgewiesen wurde – d.h. wegen unerlaubter politischer Aktivitäten ausgewiesen wurde. Ver
haftet und aus dem Land ausgewiesen wurde. Um etwas zu haben, das sie ihren Genossen im Exil vorlegen kann? Oder der Roten Hilfe, die ein Büro in Kopenhagen unterhält? Doch sicher nicht, damit die Polizei ihr gnädig gesonnen ist? Wie kann ich bloß an mehr Informationen kommen? Wie? Durch wen? Könnte Reinhard Müller eine Hilfe sein? Er gibt mir den Hinweis, dass ich mich an Professor Michael Scholz von der Hochschule auf Gotland wenden könnte.
Spurensuche
Yvonne Hirdman an Michael Scholz:
Hallo, ich suche Informationen über meine Mutter, Charlotte Stenbock-Fermor, geborene Schledt, 1906 in Dorpat geboren, die im Februar 1937 von Moskau nach Kopenhagen ging (sie war damals eine deutsche Kommunistin mit einem gültigen deutschen Pass) und – vermutlich – im Juli/Aug. 1937 nach Frankreich ausgewiesen wurde. Mit freundlichen Grüßen.
Michael Scholz an Yvonne Hirdman: Wie Sie wissen, hielten sich Charlotte Bischoff (Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands ) und eine Frau Günther zur selben Zeit in Kopenhagen auf. Meistens ging es dabei um
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