Meine Mutter, die Gräfin
Moskau – an Lungenentzündung]. Von Tania höre ich nichts.
Ich sehne mich so sehr nach Dir, mon grand amour , und würde so furchtbar gern mit Dir sprechen können. Wenn ich doch bloß wüsste, wie es Dir geht und was Du so denkst. In der Stadt ist es jetzt wunderschön – ich würde so gern mit Dir spazieren gehen, baden, in der Sonne liegen!
Grüß alle Freunde von mir. Ich fürchte, dass mir überhaupt kein Erfolg beschieden ist und wegen mir alles schiefläuft. Ich glaube, es ist nichts für mich, so ganz allein zu leben – ich brauche Berührungen. Wenn ich doch mit Dir arbeiten könnte. Chéri , sei nicht böse, dass ich so sentimental und unselbstständig bin. Aber es ist furchtbar, so ins Leere zu schreiben und nicht zu wissen, ob Du meine Briefe überhaupt erhältst – jetzt sind schon 4 Monate vergangen, und immer noch kein Lebenszeichen von Dir!«
Und am 10. Juni ergänzt – schwer zu verstehende Worte; was steht da? Jetzt muss ich versuchen, es zu interpretieren:
»Puh, wenn Du wüsstest, wie sehr ich Dich jetzt bräuchte! Ich habe gerade so viele Schwierigkeiten am Hals und hätte so gern Deinen Rat. Aber selbst wenn Du nur einen kleinen schriftlichen Gruß schicken würdest, wäre das schon viel wert und würde mich beruhigen! Es ist schrecklich, dass ich über die Sache nichts verlauten lassen darf. So soll ich z.B. über meine engen Freunde hier eine schrift
liche Erklärung abgeben und darüber, was mit mir los ist. Sonst Verfahren (Gesuch).«
Erneut strecke ich die Hand nach meinem imaginären Whiskey aus und nehme einen Zug von meiner unsichtbaren Zigarette. Yes , wenn wir mal einen Bezug zwischen diesen letzten Zeilen und dem Dokument aus der Sowjetakte vom 23. Juli oben herstellen, was haben wir dann? Einen unwiderruflichen Beweis dafür, dass sie für sie arbeitet, dass sie ihre Freunde – welche Freunde? – angeben soll, dass sie beichten soll, kommunistische Selbstkritik üben soll – was mit mir los ist –, und das unter Androhungen; ihr Leben ist ein einziger Wirrwarr. Aber – tut sie's? Oder tut sie's nicht?
»Liebster Heini«, schreibt sie am 20. Oktober, als der Herbst naht und wir immer noch das Jahr 1937 schreiben, und sie in Paris sitzt und gerade erfahren hat, dass es ihm gut geht … dass es ihm gut geht … wer hat ihr das bloß gesagt? Wenn er jetzt vielleicht freigelassen wird – vielleicht kann er ja kommen, vielleicht können sie sich endlich sehen!? Sie beeilt sich mit dem Schreiben, beeilt sich, sich zu entschuldigen und ihre ganze Schuldenlast bei ihm abzuladen:
»Heute habe ich gehört, dass es Dir gut geht, und ich hoffe sehr, dass das stimmt. Die letzte Nachricht, die ich über Dich bekommen habe, war so furchtbar und hat mich ganz durcheinandergebracht. Aber nicht sie allein, es kam noch so viel anderes hinzu. Ich bin etwas vom Wege abgekommen und habe viele Fehler gemacht – mein Glaube war nicht stark genug und ich bin nicht zäh genug. Mir fehlt auch Unterstützung. Ich würde jetzt so gerne bei Dir sein und eine Generalbeichte ablegen. In den letzten acht Monaten habe ich den verschiedensten Menschen Dinge gebeichtet – selbst wenn es nicht nötig war. Das
habe ich gemacht, weil ich mich allein nicht stark genug fühle.
Dazu kommt, dass ich nichts zu tun habe, keiner Arbeit nachgehe und mich in zu viele Verwicklungen habe verstricken lassen . Ich habe bestimmt viele Fehler gemacht – manche werden sich sicher erst noch herausstellen –, habe aber keinen einzigen absichtlich begangen, sondern nur aus Leichtsinn, Unvorsichtigkeit und Dummheit. Und für einen Großteil davon bin ich vielleicht nicht mal verantwortlich, obwohl das keine Entschuldigung sein soll. Aber es war alles so schlecht vorbereitet und so ganz anders, als wir dachten . Man hat mich im Grunde ein bisschen im Stich gelassen .
Chéri, ich will wieder mit Dir zusammen sein, Dich lieben, mit Dir leben und arbeiten und endlich kämpfen, aber ehrlich !
Es war so unnütz – und ich habe Angst, mich zu verlieren, ich hätte das besser machen können. Manchmal habe ich es sogar verdrängt – habe zu viel auf mich genommen, hatte nicht genug Überblick und zu wenig kritisiert.«
Eine Handschrift, die ihre innere Erregung erkennen lässt. Ein unbeendeter Brief. Auch diesen hat sie nicht abgeschickt. Sie hat sich Verfehlungen geleistet, hat Fehler gemacht, viel zu viele Fehler – ist mit viel zu vielen Menschen ins Bett gegangen? – es war so unnütz – bin vom Wege
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