Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
Vom Netzwerk:
wundervoll!
    Sie ist ziemlich optimistisch, als sie am 13. September nach Hause schreibt – und diesem Brief zufolge wohnt sie gewiss nicht in der Rue Clichy (bei irgendeinem Eugen Lajot) – sondern bei Mr. Gillie, einem britischen Journalisten und Korrespondenten der Times . Sie hat Unterschlupf gefunden in seiner Wohnung in der 15 Quai de Bourbon, Paris 4e, in der Nähe der Notre-Dame: Zwei Zimmer mit Küche und Bad. Und sie hat auf ihre übliche charmante Art gute Freunde im Exil gefunden, Freunde wie den oben erwähnten Reissner, die ihr helfen, »sodass meine Existenz gesichert – ja, sogar richtig anständig ist. Es gibt hunderttausend Menschen, denen es schlechter geht.« Vielleicht könne Leni sie ja besuchen kommen? Und sie ihre Geburtstage zusammen feiern? Ihren am 20. und Lenis am 27. September? Gillies Wohnung stünde ihr für drei Wochen zur Verfügung – er sei verreist – oh, Leni, komm doch!

    Und Leni kommt. Die kleine Leni, die gar nicht mehr so klein ist – sie wird 27 – und die hart gearbeitet hat, »sie hat mit ihrer Arbeit als Sozialreferentin des BDM und in der Jugendführung bei der Arbeitsfront ein Betätigungsfeld gefunden, das ihr sehr zusagt und das sie auch meistern kann«,
wie Fritz berichtet hat. Mit einer Spur Stolz? Leni traf am 24. September ein, es war ihre erste Auslandsreise. Wie viele Stunden mochte die Zugfahrt von Leipzig nach Paris gedauert haben? Wie oft hat sie umsteigen müssen? Sie ist bestimmt Dritter Klasse gefahren, hat womöglich an ihrem von Emilie geschmiertem Schwarzbrot mit Schmalz und Schnittlauch gekaut. Trotzdem ist sie so mager, dass ihre große Schwester entsetzt ist, als sie aus dem Zug steigt – so schlecht geht es ihnen?
    »Das sieht ja geradezu gesundheitsschädigend aus! Ihr werdet sehen«, schreibt sie nach Hause, »dass ich mein Bestes tun werde, um sie ein wenig aufzupäppeln«, sie hakt ihre kleine Schwester unter und geht überall mit ihr hin, deutet hierhin, zeigt dorthin und stellt sie ihren neuen Freunden vor.
    Und die zwei Schwestern spazieren die Champs-Elysées entlang – für Leni war es sicher eine unvergessliche Reise, sie sollte sich immer an sie erinnern und mir noch später, sehr viel später davon erzählen: Dass sie im Herbst 1937 in Paris war und dass es wundervoll war, nicht wahr, so hat sie sich doch ausgedrückt – wundervoll? Und da sei ein Mann gewesen, ein Grieche, er sei wunderbar gewesen, Leonidas habe er geheißen. Und im Unterschied zur schönen Lottie, die ohne größere Gewissensbisse mal hier, mal dort in die Betten hüpfte – hier ein Maler in Montparnasse, »es hätte nicht sein müssen, aber es hat mir gut getan« – da der »Kleine«, und da ist ja Peter und da der rätselhafte Tschünchük oder wie er noch gleich heißt, und da Yolem und Blatschek und und und … –, loderte bei ihr, Leni, das geweckte Feuer noch Jahre später, die Erinnerung an Leonidas.
    Gutaussehend sei er gewesen, womöglich war er ihre erste Liebe – sein Bild verblasst, aber das Gefühl existiert noch –, »hast Du ihn gesehen« , schreibt sie noch anderthalb Jahre später, in jenem eiskalten Winter 1939, an ihre große Schwester.
»Hast Du ihn gesehen?« Und dann kann sie ihren düsteren, grüblerischen Gedanken in der einsamen, leeren Wohnung in der Reginenstraße 14 nicht länger Einhalt gebieten, Gedanken, die sie seit ihrer Rückkehr in das Leipzig Hitlerdeutschlands gequält haben: »Habt ihr nur mit mir gespielt? Wolltet ihr, dass ich mich in ihn verliebe? Was sollte das?« Und Lottie antwortet aufgebracht – und ausnahmsweise einmal ohne die schon fast reflexartig hinzugefügten Phrasen, die ihre Briefe sonst enthalten – ein paar Bemerkungen übers Wetter und ihre Pfunde und dass sie auf sich aufpassen solle –, dass diese Gedanken jeglicher Grundlage entbehrten. »Was stellst Du Dir vor – mit Menschen spielt man doch nicht, und wir sind doch keine Schweine – beruhige Dich!«

    Aber noch ist Herbst in Paris. Da geht sie, die magere junge Frau aus Hitlerdeutschland, vielleicht trägt sie sogar ein Dirndlkleid und hat noch ihren Mittelscheitel – und neben ihr ihre schlanke, schicke große Schwester mit ihrem kurzgeschnittenen Haar, ihren schmalen Schals, ihren Kostümjacken und Seidenblusen … Komm Leni, sagt sie, jetzt gehen wir zu meinem Friseur, doch, komm jetzt! Ich bezahl' auch! Wenn du erst siehst, wie hübsch du aussehen wirst, du willst doch sicher hübsch aussehen? Natürlich möchte sie das – sie

Weitere Kostenlose Bücher