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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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möchte, das Leonidas sie und nicht Lottie sieht. Unsicher lächelt sie mit ihrer neuen Frisur ihrem Spiegelbild zu.
    Und sie streifen durch Paris und sitzen in Cafés und führen Anfang Dezember ein langes, langes Gespräch – daraus kann man also schließen, dass Lenis Besuch über zwei Monate dauert –, bevor Leni den Zug zurück ins Reich, zurück zu Mama und Papa, besteigt, womöglich bis oben hin vollgepackt mit kleinen Geschenken. Vielleicht sitzen sie vorher noch zusammen, die beiden Schwestern, und reden lange miteinander, so wie sie noch nie zuvor miteinander geredet
haben, sodass die ältere ihrem kleinen weinroten Tagebuch anvertraut, dass sie vielleicht zu viel erzählt hat …
    Von ihrem geheimnisvollen Leben? Von ihrer kommunistischen Überzeugung? Ihrer großen Liebe?
    Der Albtraum
    Denn er – Heini – lebt mit unvermindeter Kraft in ihr fort. Er ist nicht nur ihr Liebster, er ist ihre Nabe – der Mittelpunkt, der alles zusammenhält –, ist ihre Sonne, ihr Mond, ist ihr Glaube und ihre Zuversicht, ist ihre Richtschnur, ihr Richter:
    »Du nur allein erfüllst die Seele mir,
    Und tot erscheint mir alles außer Dir«

    Diese Mimose, denke ich. Dieser nervöse, überempfindliche, blonde Jüngling, dieser hübsche, fröhliche Junge, der keine Kartoffeln vertrug und nicht jeden Tag denselben Weg zur Arbeit gehen konnte; der so schlecht schlief und dem es so schwerfiel, sich »zu erholen«. Ausgerechnet ihn, diese sensible Mimose, erklärt sie zu ihrem kommunistischen Über-Ich: Ich weiß, dass ich faul, dumm, schwach war, gezweifelt habe, sentimental war (Todsünde!), gefügig, ichbezogen, egoistisch und nörgelig. Denk dran, was Heini dir immer vorgebetet hat, denkt sie, als sie des Nachts irgendwo in Paris wach in ihrem schmalen Bett liegt, denk dran, was er dir immer vorgebetet hat: Landgraf, werde hart! Ein deutsches Sprichwort, das auf eine alte Sage von Johannes Rothe zurückgeht, in der ein Landgraf so milde und gutherzig geherrscht haben soll, dass er das arme Volk ins Elend stürzte, weil die Mächtigen im Lande übermutig wurden und das Volk ausbeuteten und quälten. Eine feine deutsche Weisheit. Und die Moral: Milde und Sentimentalität sind häufig keine Tugend, im Gegenteil. Mit Härte sorgt man für Ordnung
und Gerechtigkeit – unentschlossenes, wenn auch gutgemeintes Handeln macht alles nur schlimmer … Werde hart im Kampf, Lott! Stähle Dich!

    Und er, der alle Anstrengungen unternommen hat, im Klassenkampf hart zu werden, liegt jetzt, an der Folter zerbrochen, da und hat alles gestanden, alles was sie ihm unterstellt haben, alles was seine Freunde unter Folter bestätigt haben, hat alle Namen genannt, die sie hören wollten, genau wie Heinz Neumann vor ihm – ja, während der zehn Minuten dauernden Gerichtsverhandlung, in der er zum Tode verurteilt wurde, hat er alles gestanden: dass er Gestapoagent war und Spitzel und Mitglied der »Antisowjetischen Antikominternorganisation«. Und nur wenig später sollten sie ihn hinausschleppen und ihn auf dem Schießplatz Butowo des NKWD erschießen. Es ist der 28. Oktober 1937, und in derselben Nacht schreckt sie in Paris schreiend aus dem Schlaf hoch, knipst das Licht an und greift zu Stift und Papier, um schreibenderweise die Bilder aus ihrem fürchterlichen Albtraum loszuwerden:

    »Vorbereitung einer Theateraufführung. Probe für einen Tanz zu fünft, ich als Mann. Bei einer Figur lande ich vor einem Mann mit Revolver. Ich weiß, dass er schießen wird. Er schießt. Ich falle um, der 3. wird am Auge verletzt. Langsam sickert das Leben aus mir heraus. Ich will Maria sehen. Der 3. versucht zu rufen, hat keine Stimme mehr – ich rufe mit all meiner Kraft. Erstarre im Inneren, kann aber noch rufen. Der Mörder ist neben mir. Maria kommt nicht, also rufe ich (Grete?), woraufhin der Mörder obszöne Gesten macht; ich bin so empört, dass ich wach werde. Er wollte mich verletzen – mich beleidigen.
     Greta Garbo (Peter?), der dicke Hotelier (Alain?), Leni, die Gerri-Dokumente!«
    Der Reiter über den Bodensee
    Peter, sagt sie, Peter, ich hatte so einen fürchterlichen Albtraum . Und sie erzählt diesem Peter von ihrem Albtraum, vielleicht ist der »kleine« auch da, vielleicht wird sie bald Mönn, Friedl, Hedi, Reissner, Selli treffen – alles Flüchtlinge und Emigranten, die wie sie ohne Zukunftsaussichten, ohne Geld, ohne Arbeit in Paris umhergehen; sie suchen die Nähe der anderen. Als sie nicht länger bei Gillie wohnen kann, zieht

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