Meine Mutter, die Gräfin
Oder Schweden?
Sie schreibt an Alexander Stenbock und fragt ihn – verzweifelt? –, ob er nicht kommen könne – doch nein, er darf nicht, sei er doch staatenlos, er müsse vorsichtig sein … – »Und, kipp nicht aus den Latschen, wenn ich Dir erzähle, mit wem ich jetzt zusammenlebe! Nel Kiesselbach! Sie hat sich von Herbert K. scheiden lassen und wir wollen, wenn möglich, heiraten. Die Wohnung ist nett, alles ist prima, wie geht es Dir, hast Du Dich etwa von Heini getrennt? Was machst Du? Hierher zu kommen halte ich für keine gute Idee …«
Nur zwei Zeilen am Ende des Briefes deuten an, dass er sich im nationalsozialistischen Berlin aufhält und sich auf dünnem Eis bewegt: »Wenn man ein Bild gebrauchen will, so sind wir Schnecken, die beim schlechten Wetter in ihr Häuschen gekrochen sind. Und, Charlotte: Falls Du noch öfter schreibst, schicke die Post über Deinen Vater. Dein A.«
Und sie legt das dünne Blatt Papier zur Seite und sieht mit leerem Blick aus dem Fenster – Nel?!
Charlotte. Entstehungsort unbekannt.
Jemand hat ein paar auserlesene Porträtaufnahmen von ihr gemacht, es muss ein Profi gewesen sein: Sie liegt halb abge
wandt im Gras – es ist Mai oder Juni, der Rasen ist von Gänseblümchen übersät. Ihre Haare sind zu einem Seitenscheitel gekämmt, sie sind kurz und fachgerecht geschnitten.
Wer mag wohl hinter der Kamera stehen? Wer sie nachts trösten? Wen lernt sie kennen? Erledigt sie ihren Auftrag? Welche Namen gibt sie an – für wen? Was hat sie gemacht?
Die Wahrheit?
Ich fühle mich, als sei ich in einem Krimi der Vierzigerjahre gelandet: Neben mir müsste ein Glas Whiskey stehen – gern mit Zigarette daneben –, und ich müsste mindestens zwanzig Jahre jünger oder ein Mann sein. Dann würde ich von meinen Papieren aufsehen, meinen Blick in die Ferne richten und nickend vor mich hinmurmeln: »Ja, genau. Genau so ist es gewesen.« Mir fehlen zwar die Einzelheiten – aber in groben Zügen weiß ich, was passiert ist. Sie trifft sich nicht nur mit Wiedbrecht und Jensen, sondern auch mit jemand anderem – womöglich mit demjenigen, der die Kamera hält? Jemand, zu dem sie ehrlich sein will, jemand, bei dem sie Trost vor den »Klatschgeschichten« und dem Gefühl des Verlorenseins sucht?
Ich kann verstehen, weshalb du Grete angelogen hast. Wie hättest du ihr in die Augen sehen und ihr – Grete, die in Stalins und Hitlers Lagern gesessen hat – die ganze, unschöne, hässliche Wahrheit erzählen können? Dass du für »sie« gearbeitet hast. Ich glaube, dass du versucht hast, so ehrlich wie möglich zu sein. Ich fälle kein Urteil – wie könnte ich auch? Ich habe nie heimatlos im Ausland gesessen, während mein Liebster in dem großen, grauen Gefängnis zurückgeblieben ist, das Moskau damals war und das du mit schlechtem Gewissen verlassen hast – mit dem Gefühl, zu Unrecht entkommen zu sein, nicht wahr?
Ich hätte bestimmt genauso gehandelt wie du und das omi
nöse Ganze geleugnet; mir selbst nicht eingestanden, dass er wirklich in Lebensgefahr schwebte; hätte die Bedrohung nicht zur Kenntnis genommen, hätte daran geglaubt – einfach geglaubt. An das, was ihr gemeinsam hattet. Vielleicht geglaubt, dass es ihm helfen würde, wenn ich mit ihnen zusammenarbeite? Oder hat womöglich er selbst seinen Freunden in der Komintern den Tipp gegeben, dass du mit deinen Sprachkenntnissen, deinem Charme, deiner Schönheit »von Nutzen« sein könntest? Um dich außer Landes zu bringen … Er, der dir in der letzten Nacht im Sojusnaja alles als ein einziges großes Abenteuer verkauft hat, als einen Einsatz gegen den Faschismus, gesagt hat, dass er nachkommen würde?
Und wohin hättest du, in dieser kalten Vorkriegswelt, auch gehen können? Nach Deutschland nicht – das wäre lebensgefährlich gewesen. Und die nordischen Länder zogen die Brücke hoch und ließen kein Schwein über den Graben spazieren – gut, ein paar Handverlesene vielleicht, und dann vor allem – das versteht sich von selbst – Sozialdemokraten. Aber sie importierten doch keine Kommunisten, oder Juden!
Und wem hast du vertraut? Wer sind »Anna«, »Michael«, wer ist Nr. 87, »Riva«? Wen triffst du so regelmäßig wie die von der Auslandsabteilung? Wer weiß genauso viel – ja, mehr sogar – über deine Aktivitäten in Kopenhagen Bescheid wie die Polizei? Ist es wahr, dass deine deutschen Genossen dich der Polizei ausgeliefert haben? War das ein Teil des Plans? Hast du genau das getan, was
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