Meine Mutter, die Gräfin
abgekommen – dem Kommunismus? – aus Leichtsinn, Unvorsichtigkeit und Dummheit, der Glaube war nicht stark genug, aber auch weil » es « schlecht vorbereitet war, und sie im Stich gelassen wurde, habe Angst, mich zu verlieren – welches »mich«? Hätte es besser machen können. Im Grunde im Stich gelassen worden. Verwicklungen. So ganz anders, als wir dachten. Und was hatten sie sich gedacht? Was hatte er ihr in ihrer letzten Nacht im Sojusnaja zugeraunt: Tu deine Pflicht, meine kleine
geliebte Genossin, ich komme hinterher. Sei hart! Kämpfe! Will kämpfen. Aber ehrlich, Heini! Ehrlich!
Frankreich im Herbst
Sie verfasst diesen Brief an einem Herbsttag in Paris – vielleicht ist er regnerisch, vielleicht strahlend schön – die Sonne fällt auf die gelbroten Blätter im Jardin du Luxembourg. Es ist ein Paris, in dem die Weltausstellung noch in vollem Gange ist, ein Paris – denk ich mir –, in dem es hoch hergeht: Auf der politischen Bühne, bei den Diskussionen, unter den Emigranten und aufgrund einer wachsenden Besorgnis. Léon Blums sozialistische Volksfrontregierung ist soeben zurückgetreten. Die vollmundigen Versprechen, die radikalen Reformen – 40-Stunden-Woche, 2 Wochen bezahlten Urlaub, Lohnerhöhungen – werden auf die Zukunft verschoben. Jetzt regiert Camille Chautemps von der Radikalen Partei, in Deutschland sitzt Hitler immer mächtiger und völlig unbehelligt im Sattel, während er das Netz um die Juden immer enger zieht, denen Stück für Stück ihre staatsbürgerlichen Rechte und der Zugang zu so selbstverständlichen Dingen wie Zeitungen, Telefon, Arbeit, Autos, Führerschein, Zutritt zu Bussen, Zugang zu Wohnungen … entzogen werden. Und in Moskau erreicht der Terror allmählich Sturmstärke.
Ihr war am 17. Juli 1937 ein dänisches Identitätszertifikat – Nr. 13 – ausgestellt worden, in das zehn Tage später ihr Einreisevisum nach Frankreich gestempelt wurde – das bis zum 15. Dezember Gültigkeit hatte. Am 31. Juli war sie mit der S / S A . P . Bernstorff nach Antwerpen gefahren und hatte von dort den Zug nach Paris, zum Gare Montparnasse, bestiegen.
Gestrandet in Paris.
Da steht sie nun mit ihrem Koffer, oder auch mit ihren Koffern, die ihre schönen rumänischen Blusen, kleine Tischtücher, Fotos, Briefe, ja, all ihre irdischen Besitztümer ent
halten. Sieht sie sich um, hält sie nach jemandem Ausschau? Jemandem, den sie treffen soll?
Schaut man in die sowjetische Akte, so scheint eine Überwachungskamera ihre Ankunft und jeden ihrer Schritte registriert zu haben:
80 – Anlaufadresse
81 – Eugen Lajot, Parix IX , rue Clichy 39
82 – Dienstag und Donnerstag
83 – 15-16 Uhr
84 – Café de la Marine
85 – Gare (sic) de Montparnasse
86 – Hotel du Terminus
87 – Mdlle Riva
88 – Erkennungszeichen und Legitimation
Oder ist sie nie zu dieser Adresse gefahren, ist nie in dieses Café gegangen? Haben sie Dienstag und Donnerstag zwischen drei und vier vergeblich gewartet – ist es vielleicht Mademoiselle Riva, die ihren Blick gespannt auf all die Frauen richtet, die durch die Tür treten – die fieberhaft an ihnen nach dem verabredeten Kennzeichen sucht – Genossin C. aber nicht kommt? Die keine Berichte mehr abliefert, keine Selbstkritik? Denn dieses Chiffrenblatt ist dem Datum nach das letzte Material in ihrer Kaderakte. Mehr gibt es nicht. Weil sie sie aus den Augen verlieren? Weil sie abspringt?
Stattdessen wendet sie sich an das Unterstützungskomitee für deutsche Flüchtlinge in Frankreich und beantragt eine Aufenthaltserlaubnis. Bitte, bitte – helft mir. So oder so ähnlich werden sie geantwortet haben:
Das ist so gut wie ausgeschlossen, Frau Stenbock-Fermor, erwidert der Kommissionssekretär G. Reissner. Die französische Regierung erkennt eigentlich keine deutschen Flücht
linge mehr an, die nach dem 5. August 1936 ins Land gekommen sind, und in dem Fall müssen sie auch direkt aus Deutschland und nicht über geheimnisvolle Umwege wie die Schweiz, aus Prag, Moskau oder Kopenhagen hergekommen sein. Aber wir können natürlich versuchen, Sie wieder nach Kopenhagen abzuschieben. Und so schreibt er flehentlich an Doktor Breitscheid in Kopenhagen und bittet ihn, sich dafür einzusetzen, dass sie nach Dänemark zurückkehren kann, und sie denkt, dass sich alles finden wird – und schreibt an Fritz und Emilie und Leni: Stellt Euch vor, vielleicht können wir ja in Kopenhagen zusammen Weihnachten feiern?! Wäre das nicht
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