Meine Mutter, die Gräfin
gleich zugeben kann: Nun,
sie sei aus der Schweiz ausgewiesen worden, gibt sie zu verstehen. Wegen unerlaubter politischer Aktivitäten. Seither – seit 1934 – jedoch hätte sie sich nicht mehr der Politik gewidmet. Dass sie Russland verlassen habe, hätte keine politischen Gründe, äußert sie, sondern läge schlicht und einfach daran, dass Kurella sich von ihr getrennt habe, sie mit ihren Nerven am Ende sei, und sie wolle sich hier im Land nur so lange aufhalten, bis sie wieder zur Ruhe gekommen sei. Sie habe bis zum 12. März für Kost und Logis bezahlt und habe noch genügend Geld für einen weiteren Monat. Danach könne sie Geld von ihren Eltern aus Deutschland bekommen ( wer's glaubt, wird selig, denke ich ) oder von ihrer Tante Charlotte Bentley ( na, da schau an ), die in London wohne.
Der Geheimakte zufolge sucht sie im Winter, Frühjahr und Sommer 1937 in Kopenhagen verzweifelt nach Auswegen, sucht nach einem Land, das sie aufnimmt. Mit Vorliebe Frankreich. Kein Wunder, dass sie am liebsten nach Frankreich möchte – führt dort doch der Sozialist Léon Blum seine Volksfront-Regierung an. Dort gibt es Widerstand gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus, und dort wird solchen verkrachten Existenzen wie ihr auch ein größeres Verständnis entgegengebracht. Hofft sie. Mindestens einmal pro Woche muss sie Jensen und Wiedbrecht über die Schritte, die sie unternimmt, Rechenschaft ablegen – an wen sie geschrieben hat, welche Antwort sie bekommen hat, wo sie wohnt, ob sie umzieht und wohin. Die ganze Zeit schwebt das Damoklesschwert über ihr, dass man sie nach Deutschland ausgeweist. Über sämtliche Bemühungen ihrerseits wird Buch geführt: wie viele Briefe sie an Heinis Schwester Tania in Paris schreibt, Kopien der Briefe an ihren Vater mit der Bitte, ihr Abschriften aus deutschen Zeitungen aus dem Jahr 1934 zu senden, um zu untermauern, dass die deutschen Behörden über ihre kommunistischen Aktivitäten
im Bilde waren, welche Versuche sie unternimmt, um in Dänemark bleiben zu können usw. Sie wendet sich an Rudolf Breitscheid, der deutscher Flüchtling und Sekretär des Komitees zur Unterstützung von landesflüchtigen Geistesarbeitern war (Punkt 52, Intellektuellen-Komitee, in Akte 6433), doch ohne größeren Erfolg. Breitscheid war Sozialdemokrat und wahrscheinlich nicht so leicht zu umgarnen. Er teilt der dänischen Polizei – auf Anfrage – mit, dass er prüfen will, ob ihr tatsächlich die Abschiebung nach Deutschland drohe, es sei ihm jedoch bekannt, dass man in Deutschland über ihre Beziehung zu Kurella Bescheid wisse und dass Kurella Kommunist sei. Breitscheid habe auch Rektor Hartvig Möller angerufen, um mehr zu erfahren, und Möller habe ihm erzählt, dass er Kurella, nicht Charlotte Stenbock-Fermor, kennengelernt habe.
Und der Winter in Kopenhagen verstrich – im März erhält sie endlich von daheim die Abschriften der Zeitungsartikel, mit denen sie beweisen kann, dass es riskant für sie ist, nach Deutschland zurückzukehren. Am 10. März zieht sie in die Pension Bartoli in der Upsalagade 20, und am 24. muss sie eingestehen, dass ihre Aktivitäten zu keinem Ergebnis geführt haben; Woche für Woche sucht sie die Polizeistation auf und stattet über ihre fruchtlosen Bemühungen Rechenschaft ab. Wenn sie aber ein dänisches Identitätszertifikat bekommen könnte, könnte ihr ein französisches Einreisevisum ausgestellt werden – wenn sie das bekäme, würde sie im April ausreisen können. Als alles für die Ausreise bereit ist, wird ihr mitgeteilt, dass das französische Konsulat nach Paris geschrieben hätte und es noch zwei, drei weitere Wochen dauern dürfte, bevor sie Bescheid bekäme. Sie habe nichts von ihrer Schwägerin gehört – obwohl diese ihr Geld geschickt hätte –, teilt sie Jensen und Wiedbrecht mit. Hat sie das wirklich? Stammte das Geld wirklich von ihrer Schwä
gerin? Von einer Schwägerin, die seltsamerweise nur Geld, aber keinen Brief schickt? Wenn man das mit den bestechenden Punkten 66 und 67 der sowjetischen Akte addiert: GPU , 300 Dollar …
Im Mai hat sich ihre Situation immer noch nicht geklärt. Sie setzt den Polizeibeamten Wiedbrecht davon in Kenntnis, dass sie zum estnischen Konsulat Kontakt aufgenommen habe, um sich nach Möglichkeiten zu erkundigen, ihre estnische Staatsbürgerschaft zurückzubekommen – doch das war auch eine Sackgasse – sie hätte sich zuvor mindestens zwei Jahre in Estland aufhalten müssen. Vielleicht Norwegen?
Weitere Kostenlose Bücher