Meine Mutter, die Gräfin
in Kopenhagen begegnet sein. Sie wartet häufig auf seine Briefe, und manchmal sehen sie sich auch in Frankreich. Weisskopf und Blatschek sollten beide später an dem sogenannten »Manhattan-Projekt« arbeiten (Deckbezeichnung des Projektes, an dem die USA , Großbritannien und Kanada für die Entwicklung und den Bau einer Atombombe zusammenarbeiteten). In Paris verkehrt sie mit einem weiteren Physiker – denn plötzlich meine ich, in ihrem kleinen Tagebuch den Name »Halban« entziffern zu können. Und – ach nee! – auch Halban, Hans Halban, verheiratet mit Els (die später Blatschek heiraten wird), ist ein Physiker und einer der Bohr-Jungs. Also auch jemand, der am Manhattan-Projekt mitarbeiten und zum Bau der Atomwaffe beitragen wird.
Ich weiß nicht mehr, wie ich mit alldem umgehen soll. Aber man muss schon beschränkt sein, um angesichts die
ser ganzen Zufälle nicht misstrauisch zu werden: Charlotte + Weisskopf + Blatschek + Halban = Ja, was? Es kann doch kaum noch darum gehen, exilkommunistische Kreise zu infiltrieren, um sogenannte Trotzkisten zu entlarven?
Als wäre das nicht schon genug, gibt es da noch dieses Gerri-Geheimnis – die »böse Gerri-Geschichte«, wie sie es immer wieder nennt. Wieder und wieder taucht »Gerri« in ihrem kleinen, abgegriffenen Tagebuch auf – zuerst im Zusammenhang mit ihrem Albtraum im Oktober 1937, zuletzt im Juli 1939, als sie Frankreich verlassen muss – wegen »Gerri«, wie sie glaubt. Also, was war mit Gerri, flehe ich sie an, wer war er? Was ist das für eine »Geschichte«? Totenstille.
Aber ich bemühe mich weiter, schicke erneut Fragen in den Cyberspace und stoße auf ein Gewirr aus Spionage, Geheimnissen, Abkürzungen und Decknamen – ja, auf eine Kalle-Blomkvist-Welt der Wissenschaft. Da hätten wir die geheimnisumwitterte Organisation OMS (Abteilung für Internationale Verbindungen) oder WEB (Westeuropäisches Büro), beides Verbindungs- und Nachrichtendienste, die an die Spionagetätigkeiten der Komintern geknüpft und in Kopenhagen angesiedelt waren, wie auch der ISH (Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter). Könnte es sich bei Gerri um Harry handeln? Falls Gerri »Harry« ist, alias Henri Robinson, könnte das der Mann der GPU in Paris sein – wie Guillaume Bourgeois, ein Spezialist für Agenten der Komintern in Paris zu jener Zeit anregt. Aber Gerri ist alles, was da steht. Könnte Tschü… vielleicht die deutsche Transkribierung eines russischen Namens sein, vielleicht handelt es sich um Chintjuk Lev Michailovitj, geboren 1868, Botschafter in Berlin und später in Moskau?, regt Reinhard Müller an. Aber ist der nicht schon ein bisschen zu alt? Und 1938 hielt er sich ja auch in Moskau auf. Und hätte sie ihn dann nicht auch Lev genannt?
Hier könnte man sich verheddern. Es nimmt einfach kein
Ende, und ich komme partout nicht weiter. Es ist mir zu viel, it's too much , murmele ich vor mich hin – vielleicht, damit diese Worte doch noch jemanden im Irgendwo erreichen, jemanden, der seinen schönen Kopf noch mehr abwenden wird, weg, weit weg – oder hoffe ich etwa, dass dieser jemand mich im Traum aufsucht, mir genau erzählt, wie es gewesen ist, mir einen Hinweis gibt, wo ich suchen soll?
Gerri, weißt du, war – und diese Physiker, da sollte ich einfach – und ich hab Geld von ihnen bekommen – und sie wurden ausbezahlt – und mir wurde versprochen, dass – und ich dachte, ich würde Heini dadurch helfen – aber als sich mich gebeten haben – habe ich trotzdem gezweifelt – war nicht ganz blöd, auch wenn ich so tat – und die Moskauer Schauprozesse gingen weiter – vergiss nicht den spanischen Bürgerkrieg, der fürchterlich wütete – und die ganze Zeit war ich von Ausweisung bedroht – die Polizei war mir schon seit Februar 1938 auf den Fersen – im März wurde mein Aufenthaltsrecht bis Ende des Jahres verlängert – und was hätte ich tun sollen – keine Arbeit – habe ein paar Mal Modell gestanden, Gillie bei Übersetzungen geholfen – hatte nie Geld – du hättest T. gemocht, ja, er war –
Ja, was hätte sie tun sollen? Ihre Heimatlosigkeit war absolut, als sie im Februar 1938 stolz verkündete, dass sie ihre deutsche Staatsbürgerschaft los sei – »obwohl ich das eigentlich nicht verdient hatte«. Und der Herbst wird immer dunkler, immer trister: Im August stirbt Papa Fritz, in München wird die Tschechoslowakei aufgeteilt, zwischen Hitler, Chamberlain und Daladier herrscht freudige Eintracht – »Frieden
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